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»Sie glauben also nicht an die Vernunft?« Sharpe lenkte das Gespräch ab von dem schmerzlichen Thema der Loyalität des Grafen Mouromorto.

»Vernunft ist die Mathematik des Denkens, nicht mehr. Man lebt sein Leben nicht nach derart trockenen Regeln. Mathematik weiß keine Erklärung für Gott, auch nicht die Vernunft, und ich glaube an Gott! Ohne ihn sind wir nichts als verderbt. Aber ich habe vergessen, dass Sie ja auch keinen Glauben haben.«

»Nein«, sagte Sharpe schlicht.

»Aber dieser Unglaube ist besser als Tomas' Stolz. Er hält sich für größer als Gott, aber noch ehe dieses Jahr um ist, Lieutenant, werde ich ihn der Gerechtigkeit Gottes ausliefern.«

»Und wenn die Franzosen etwas anderes im Sinn haben?«

»Auf die Absichten der Franzosen pfeife ich. Mir geht es nur um den Sieg. Deshalb habe ich Sie gerettet. Deshalb marschieren wir heute Nacht durch die Dunkelheit.« Vivar gab keine weiteren Erklärungen ab, denn er brauchte all seine Kraft, um die müde werdenden Männer immer weiter und höher hinaufzutreiben.

Louisa Parker, so erschöpft, dass sie kein Wort mehr hervorbrachte, wurde auf ein Pferd gehoben. Der Pfad führte weiter bergan.

Im Morgengrauen sah Sharpe unter einem wolkenlosen Himmel, an dem der Morgenstern über dem bereiften Land verblasste, dass sie auf eine Festung zu marschierten, die auf einem Berggipfel errichtet worden war.

Es war keine moderne Festung mit niedrigen Bauten hinter steilen Erdwällen, wo die Kanonen hoch über Gräben und Schanzen hinwegfeuern konnten, sondern eine hohe Festung von uralter und finsterer Bedrohlichkeit. Sie sah nicht gerade einladend aus. Es war nicht der Sitz eines prunksüchtigen Herrschers, sondern ein Bollwerk, erbaut, um bis ans Ende aller Zeiten das Land zu verteidigen.

Die Festung stand seit hundert Jahren leer. Sie war zu entlegen und zu hoch, um sich leicht versorgen zu lassen, und Spanien hatte Orte wie diesen nicht nötig gehabt. Nun jedoch führte Blas Vivar die ermatteten Cazadores im kalten Morgengrauen unter dem alten, moosbewachsenen Torbogen hindurch auf einen Innenhof mit Kopfsteinpflaster und üppigem Bewuchs aus Unkraut und Gräsern. Einige seiner Männer hatten unter dem Kommando eines Unteroffiziers die alte Festung besetzt gehalten, während der Major fort war, und der Geruch ihrer Herdfeuer war nach der Kälte der Nacht sehr einladend. Sonst wirkte die Festung eher abschreckend: Die Wälle waren von Unkraut überwuchert, im Hauptturm nisteten die Raben und Fledermäuse, und die Keller standen unter Wasser. Doch die Begeisterung, mit der Vivar nun Sharpe überall herumführte, wirkte ansteckend.

»Der Ahnherr der Vivars hat vor beinahe tausend Jahren diesen Bau errichtet! Er war unsere Heimstatt, Lieutenant. Unsere Fahne wehte von jenem Turm, und die Mauren haben ihn niemals eingenommen.«

Er geleitete Sharpe zur nördlichen Bastion, die wie der Horst eines großen Raubvogels über unermessliche Tiefen hinausragte. Tief drunten im Tal waren verschwommen Bäche und bereifte Pfade auszumachen. Von hier aus hatten jahrhundertelang Männer in stählernen Helmen Ausschau gehalten nach dem Glitzern reflektierten Sonnenlichts auf fernen heidnischen Schilden. Vivar zeigte auf eine tief verschattete Kluft im nördlichen Gebirge, wo der Reif wie Schnee ganze Flächen bedeckte.

»Sehen Sie diesen Pass? Ein Graf Mouromorto hat diese Straße einst drei Tage gegen eine muslimische Horde gehalten. Er hat die Hölle mit ihren jämmerlichen Seelen gefüllt, Lieutenant. Es heißt, man könne dort in den Felsspalten immer noch verrostete Pfeilspitzen und Teile ihrer Kettenhemden finden.«

Sharpe drehte sich um und blickte zum Turm hinauf. »Jetzt gehört die Burg Ihrem Bruder?«

Vivar nahm die Frage als Angriff auf seinen Stolz. »Er hat den Namen der Familie entehrt. Daher ist es meine Pflicht, ihre Ehre wiederherzustellen. Mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen.«

Diese Worte waren ein unzweideutiger Hinweis auf den Ehrgeiz, der den Spanier trieb, doch Sharpe war es um ein ganz anderes Problem gegangen, das er nun auf direktem Wege ansteuerte.

»Wird Ihr Bruder nicht wissen, dass Sie hier sind?«

»Oh, sicher. Aber die Franzosen würden zehntausend Mann brauchen, um diesen Hügel zu umzingeln, und noch einmal fünftausend, um die Festung anzugreifen. Sie werden nicht kommen. Sie fangen gerade erst an zu begreifen, was für Probleme ihnen ihr Sieg bereiten wird.«

»Probleme?«, fragte Sharpe.

Vivar lächelte. »Die Franzosen, Lieutenant, stellen fest, dass in Spanien große Heere verhungern und kleine Heere geschlagen werden. Hier kann man nur siegen, wenn man vom Volk ernährt wird, und das Volk lernt derzeit, die Franzosen aus ganzem Herzen zu hassen.« Er ging voran, von der Wallanlage herunter. »Versetzen Sie sich in die Lage der Franzosen! Marshall Soult hat Ihr Heer nach Nordwesten verfolgt, und wohin? Nirgendwohin! Er hat sich in den Bergen verirrt und ist von nichts umgeben als von Schnee, schlechten Straßen und rachsüchtigen Bauern. Alles, was er isst, muss er selber finden, und im galicischen Winter gibt es nicht viel zu finden, wenn es dem Volk gefällt, es zu verbergen. Nein, seine Lage ist ziemlich hoffnungslos. Seine Boten werden umgebracht, seine Patrouillen in Hinterhalte gelockt, und bisher ist nur ein Bruchteil des Volkes am Widerstand beteiligt! Wenn sich erst das ganze Land gegen ihn erhebt, wird sein Leben zur blutigen Quälerei werden.«

Diese Prophezeiung sprach der Major mit solchem Nachdruck aus, dass Sharpe von ihrer Richtigkeit überzeugt war. Er erinnerte sich, wie de l'Eclin freimütig seine Angst vor der Nacht gestanden hatte, seine Angst vor den Messern der Bauern in der Dunkelheit.

Vivar wandte sich erneut der Kluft zwischen den Bergen zu, wo einst sein Urahn ein islamisches Heer niedergemetzelt hatte. »Einige aus dem Volk kämpfen bereits, Lieutenant, aber die Übrigen sind verängstigt. Sie sehen die Franzosen siegen und fühlen sich von Gott verlassen. Sie brauchen ein Zeichen. Sie brauchen, wenn man es so nennen will, ein Wunder. Es handelt sich um einfache Bauern. Sie kennen keine Vernunft, aber sie kennen ihre Kirche und ihr Land.«

Sharpe spürte, wie seine Haut kribbelte, nicht von der morgendlichen Kälte, nicht vor Angst, sondern weil er etwas kommen sah, das sein Vorstellungsvermögen überstieg. »Ein Wunder?«

»Später, mein Freund, später!« Vivar lachte über die Verwirrung, die er mit voller Absicht gestiftet hatte. Dann stieg er die Stufen hinab auf den Innenhof. Seine Stimme klang plötzlich schelmisch, voller Lust und Laune. »Sie haben sich noch gar nicht dafür bedankt, dass ich Sie gerettet habe!«

»Mich gerettet? Guter Gott! Ich war dabei, diese Schweinehunde zu vernichten, aber Sie mussten sich einmischen!« Sharpe folgte ihm die Stufen hinab. »Sie haben sich noch gar nicht dafür entschuldigt, dass Sie mich belogen haben.«

»Das habe ich auch nicht vor. Andererseits verzeihe ich Ihnen, dass Sie bei unserer letzten Begegnung mir gegenüber aus der Haut gefahren sind. Ich hab Ihnen ja gesagt, Sie würden ohne mich keinen Tag überstehen.«

»Hätten Sie mir nicht die verdammten Franzosen auf den Hals gehetzt, wäre ich inzwischen auf halbem Wege nach Oporto!«

»Aber ich hatte guten Grund, sie hinter Ihnen herzuschicken.« Vivar war am Fuß der Treppe angelangt, die vom Festungswall herabführte, und wartete dort auf Sharpe. »Ich wollte die Franzosen aus Santiago de Compostela weglocken. Ich dachte mir, wenn sie Sie verfolgen, könnte ich in ihrer Abwesenheit die Stadt betreten. Deshalb habe ich das Gerücht verbreitet. Man hat mir geglaubt, aber die Stadt blieb trotzdem besetzt. Nun ja.« Er zuckte mit den Schultern.

»Mit anderen Worten, Sie können ohne mich keinen Krieg gewinnen.«

»Überlegen Sie doch, wie sehr Sie sich in Lissabon gelangweilt hätten! Keine Franzosen zum Töten, kein Blas Vivar zum Bewundern!« Vivar hakte sich freundschaftlich bei Sharpe unter, wie es in Spanien der Brauch war. »Allen Ernstes, Lieutenant, ich bitte um Verzeihung für mein Verhalten. Ich kann meine Lügen rechtfertigen, nicht aber meine Beschimpfungen. Dafür entschuldige ich mich.«