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Als Vivar den Deckel der Truhe schloss, knarrten die Scharniere. Der Wind wirkte plötzlich kälter und bedrohlicher, wie er so durch das schmale Fenster pfiff und das Kerzenlicht flackern ließ.

»Ihr Bruder ...«, Sharpe hatte Mühe, es auszusprechen, »... will das Banner nach Frankreich schaffen?«

Vivar nickte. »Tomas glaubt nicht an die Legende, aber er versteht wohl ihre Macht. Genau wie der Kaiser Napoleon. Sollte das spanische Volk erfahren, dass Santiagos Banner in Paris nur eine Trophäe unter vielen ist, könnte es verzweifeln. Tomas weiß darum, und ebenso weiß er, dass das spanische Volk, die guten Kräfte im spanischen Volk, an den Sieg glauben werden, wenn es gelingt, das Gonfalon in Santiago zu entfalten. Dann wird es nicht darauf ankommen, Lieutenant, wenn Tausende und Abertausende von Franzosen durch unsere Straßen ziehen, denn mit Santiagos Beistand kann uns kein französischer Kaiser besiegen.«

Sharpe entfernte sich vom Altar. »Demnach muss das Banner nach Santiago de Compostela gebracht werden?«

»Ja.«

»Das von den Franzosen besetzt gehalten wird?«

»In der Tat.«

Sharpe zögerte, dann äußerte er seine Vermutung. »Sie wollen also, dass ich Ihnen helfe, in die Stadt vorzudringen?« Noch während er sie aussprach, erschien sie ihm als Wahnsinn, doch die Atmosphäre in der Kapelle befreite seine Stimme von jeglicher Skepsis. Er starrte die Truhe an und fuhr fort: »Wir müssen ihre Verteidigungslinien nehmen, in die Kathedrale eindringen und sie so lange halten, wie Ihre Zeremonie dauert? Ist es das?«

»Nein. Wir brauchen einen Sieg, Lieutenant. Es muss für alle erkennbar sein, dass Santiago einen Sieg erringt! Das darf keine finstere Tat sein, die heimlich und hastig ausgeführt wird. Das darf kein Überfall sein. Nein, wir werden den Franzosen die Stadt nehmen. Wir werden sie erobern, Lieutenant, und wir werden sie so lange halten, bis das Volk weiß, dass auch dieser neue Feind gedemütigt werden kann. Wir werden einen großen Sieg erringen, Lieutenant, für Spanien!«

Sharpe starrte ihn ungläubig an. »Mein Gott.«

»Natürlich mit seiner Hilfe.« Vivar lächelte. »Und vielleicht, denn ich kann keine spanische Infanterie auftreiben, mithilfe Ihrer Rifles.«

Irgendwie hatte Sharpe damit gerechnet, dass man ihm gar keine Wahl lassen würde. Er hatte angenommen, allein durch die Tatsache, dass er Vivars Geheimnis zu sehen bekam, an der Verschwörung teilzuhaben. Nun jedoch, hier in der kalten Kapelle, wusste er, dass er sich weigern konnte. Was Vivar verlangte, war Irrsinn. Eine Hand voll geschlagener Männer, Briten und Spanier, sollten einem siegreichen Feind eine Stadt entreißen, und nicht nur entreißen, sondern gegen die Übermacht des französischen Heers halten, das nur einen Tagesmarsch entfernt sein würde.

»Nun?«, fragte Vivar ungeduldig.

»Natürlich wird er Ihnen helfen!«, sagte Louisa mit einem Eifer, der an ihren blitzenden Augen abzulesen war.

Die Männer ignorierten sie, und Sharpe hüllte sich weiter in Schweigen.

»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu helfen«, sagte der Major leise, »und wenn Sie sich weigern, Lieutenant, werde ich Ihnen Proviant überlassen und einen Führer, der Sie ungefährdet in den Süden bringt. Vielleicht sind die Briten ja noch in Lissabon. Wenn nicht, werden Sie irgendwo entlang der Küste ein Schiff finden. Die soldatische Vernunft verlangt, dass Sie diesen abergläubischen Unsinn vergessen und nach Süden aufbrechen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Sharpe tonlos.

»Aber Siege werden nicht immer mit Vernunft errungen, Lieutenant. Logik und Vernunft können durch Gläubigkeit und Stolz zu Fall gebracht werden. Ich glaube daran, dass sich ein uraltes Wunder erfüllen wird, und ich lasse mich vom Stolz leiten. Ich muss den Verrat meines Bruders rächen, sonst wird der Name Vivar die Annalen Spaniens mit seinem Gestank durchdringen.« Vivar sprach so beiläufig, als gehöre das Rächen brüderlichen Verrats zum Alltag eines jeden Menschen. Nun blickte er Sharpe in die Augen und schlug einen anderen Ton an. »Darum erflehe ich Ihre Hilfe. Sie sind Soldat und ich glaube, dass Gott Sie als Werkzeug für dieses Vorhaben geschickt hat.«

Sharpe wusste, wie schwer es Vivar fiel, diese Bitte zu äußern, denn er war ein stolzer Mann und nicht gewohnt, als Bittsteller aufzutreten. Pater Alzaga protestierte mit einem kehligen Knurren, während Sharpe immer noch zögerte. Es verging fast eine halbe Minute, ehe der Engländer endlich das Wort ergriff. »Meine Hilfe hat einen Preis, Major.«

Vivar versteifte sich augenblicklich. »Einen Preis?«

Sharpe nannte den Preis, und indem er ihn Vivar sagte, ließ er sich auf einen Irrsinn ein. Um seiner Rifles willen hatte er vor, einen Heiligen aus dem ewigen Schlaf zu erwecken. Er würde sich aufmachen zur Stadt vom Sternenfeld und sie dem Feind abnehmen.

Aber nur gegen einen Preis.

Am nächsten Tag nach der Morgenparade verließ Sharpe die Festung und begab sich an einen Ort, von dem aus er meilenweit die Winterlandschaft überblicken konnte. Die fernen Hügel waren kahl und verblasst, hoben sich stählern vom weißen Himmel ab. Der Wind war kalt, ein Wind, der Männer und Pferde auszehrte. Wenn Vivar nicht bald aufbrach, dachte er, konnten die Pferde der Spanier nicht mehr mitziehen.

Sharpe saß allein am Rand des Pfads, dort wo der Hügel steil abfiel. Er sammelte eine Hand voll Steine auf, die von der Größe her Musketenkugeln glichen, und schleuderte sie gegen den großen weißen Felsbrocken, der etwa zwanzig Schritt unter ihm am Hang lag. Er redete sich ein, dass ein Marsch auf die Kathedralenstadt dann gelingen würde, wenn er ihn fünfmal hintereinander traf. Die ersten vier Kieselsteine fanden ihr Ziel, prallten ab und verschwanden im Bewuchs und Geröll des Hügels. Er war beinahe versucht, den fünften schräg zu werfen, doch stattdessen prallte der Stein senkrecht von der Mitte des Findlings ab.

Gottverdammt, er war wirklich verrückt! Am vergangenen Abend hatte er sich von der Feierlichkeit des Anlasses überwältigen und von Vivars packender Erzählung eines uralten Mythos hinreißen lassen. Das Banner eines Heiligen, der seit fast tausend Jahren tot war! Er warf noch einen Kieselstein und sah zu, wie er über den Felsbrocken wegsauste und in einen Flecken Jakobskreuzkraut fiel, das nach dem spanischen Schutzpatron benannt war.

Er starrte in die Ferne, wo immer noch Reif in jenen Falten des Hügellandes lag, die die Sonne noch nicht berührt hatte. Hinter ihm fraß der Wind an dem hohen Turm und dem dicken Gemäuer der Festung. Dieser Wind fühlte sich unermesslich rein und kalt an, wie eine Prise Vernunft nach der sinnverwirrenden Düsterkeit und dem Kerzengestank der vergangenen Nacht.

Irrsinn war es, gottverdammter Irrsinn! Sharpe hatte sich überreden lassen und außerdem wusste er, dass Louisas Begeisterung für die ganze idiotische Angelegenheit ihn beeinflusst hatte. Er warf eine ganze Hand voll Kieselsteine von sich, die sich wie Kartätschen aus der Mündung einer Kanone ausbreiteten und um den weißen Findling herum verstreuten.

Hinter Sharpe erklangen Schritte, dann verweilten sie ein Stück Weges von ihm entfernt. Nach kurzem Schweigen war eine gereizte Stimme zu hören. »Sie wollten mich sprechen, Sir?«

Sharpe stand auf. Er rückte seinen Degen gerade, dann drehte er sich um und sah Harper in die empörten Augen.

Harper zögerte, ehe er zur Ehrenbezeugung seinen Tschako abnahm.

»Sir.«

»Harper.«

Wieder herrschte Schweigen. Harper wandte den Blick ab, dann sah er seinen Vorgesetzten wieder an. »Es ist nicht fair, Sir. Ganz und gar nicht.«

»Mach gefälligst nicht so eine jämmerliche Figur. Wer käme darauf, dass es im Soldatenleben fair zugehen sollte?«

Harper versteifte sich, als er von Sharpe so angesprochen wurde, ließ es sich jedoch nicht nehmen, Widerspruch anzumelden. »Sergeant Williams war ein fairer Mann, Captain Murray ebenfalls.«