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Er blinzelte und dachte an den Augenblick, als de l'Eclin ihn an der Brücke beinahe niedergemacht hätte. Das erschien ihm jetzt so lange her, hatte er doch erst später Vivar und Louisa kennengelernt. Sharpe erinnerte sich an das heranstürmende schwarze Pferd, das zu seiner Verblüffung nach rechts abgeschwenkt war, sodass der Oberst mit der Linken zuschlagen konnte. Wer rechnet schon damit, einem linkshändigen Fechter gegenüberzutreten? Vielleicht war das die Erklärung dafür, warum so viele Soldaten abergläubisch wurden, wenn es darum ging, gegen einen Linkshänder anzutreten.

Sharpe spähte wieder durch sein Fernrohr. Oberst de l'Eclin hatte seine gebogene Klinge auf den Sattelknauf gelegt und wartete. Die Pferde hinter ihm bewegten sich rastlos auf und ab. Die Sonne sank, ein Ball, der immer rötlicher wurde. Bald würde man in Santiagos Kathedrale ein Banner entfalten und die Gläubigen würden einen toten Heiligen anflehen, ihrem Land zu Hilfe zu eilen. Mittlerweile aber wartete ein Soldat aus des Kaisers bester Elitetruppe auf den Angriff, der die Verteidigungslinien der Stadt durchbrechen würde. Sowohl die Finte als auch der Angriff, erkannte Sharpe, würden von Westen erfolgen. Die dreihundert Reiter sollten das Feuer der Verteidiger auf sich ziehen, während die übrigen Dragoner, die noch in der Senke verborgen waren, einen plötzlichen Ausfall vorbereiteten, der aus dem Dunst des Pulverdampfs hervorbrechen würde wie ein Blitzschlag.

Harper hetzte die Schützen den Hügel hinauf. »Wo sollen sie in Stellung gehen, Sir?«

Aber Sharpe antwortete nicht. Er beobachtete Oberst de l'Eclin, der mit seinem Säbel eindrucksvolle Übungsschläge ausführte, als würde er sich langweilen. Der Widerschein der Sonne auf der schimmernden Klinge provozierte die Verteidigung der Stadt zu einer unregelmäßigen und ungenauen Salve. De l'Eclin nahm keine Notiz davon. Er wartete darauf, dass die Sonne zu einer Waffe wurde, die mit ihrer Grellheit den Verteidigern die Sicht nahm. Dieser Augenblick war jetzt nicht mehr fern.

»Sir?«, fragte Harper nach.

Aber Sharpe antwortete immer noch nicht, denn in diesem Moment kam ihm eine neue Gewissheit. Endlich wusste er, was die Franzosen vorhatten. Er hatte sich geirrt, was den Angriff von Süden her anging, und wenn er sich jetzt wieder irrte, waren die Stadt, das Gonfalon und all seine Männer verloren. Er fühlte sich geneigt, die neue Erkenntnis außer Acht zu lassen, doch jetzt zu zögern konnte fatale Folgen haben, und die Entscheidung musste fallen. Er schob das Fernrohr zusammen und steckte es in die Tasche. Er versetzte den Säcken voller Fußangeln einen Tritt. »Nehmt euch die Säcke und folgt mir. Ihr alle!«

»Auf die Beine!«, bellte Harper die Schützen an.

Sharpe begann zu rennen. »Folgt mir! Beeilt euch! Kommt!« Er verfluchte sich, dass ihm die Wahrheit nicht schon früher eingefallen war. Es war so gottverdammt einfach! Warum hatten die Franzosen die Vorräte in den Palast geschafft? Und warum hatte Oberst Coursot Getreide und Heu in den Kellern gelagert? Ein Keller war nicht der geeignete Ort, um ein bis zwei Tage vor ihrer Verteilung Futtermittel zu lagern! Und dann die eintausend Reiter. Selbst ein so erfahrener Soldat wie Harper hatte die Dragoner angestarrt und war beeindruckt gewesen von ihrer Zahl. Männer sahen häufig eine Horde, wo es nur eine kleine Schar gab, und wie viel eher konnte ein Zivilist mitten in der Nacht dem gleichen Irrtum erliegen. Sharpe rannte noch schneller. »Kommt schon! Beeilung!«

Denn die Stadt war beinahe verloren.

Das Mittelschiff der Kathedrale war schlichter, als die Fassade des Gebäudes erkennen ließ, doch diese Schlichtheit lenkte nicht von der Erhabenheit seiner von Säulen gestützten Höhe ab. Jenseits des langen Mittelschiffs, der Seitenschiffe mit ihren Kuppeldecken und der Zwischenwand lag ein Sanktuarium, so üppig ausgestattet wie nur irgendeines im christlichen Abendland, und das, obwohl die Franzosen die Versilberungen heruntergerissen, die Statuen vom Sockel gestoßen und die Triptychen aus ihren Rahmen gezerrt hatten. Hinter dem Altar befand sich ein leerer Raum, der Hort Gottes. Das Dämmerlicht wurde von den scharlachroten Strahlen der untergehenden Sonne erhellt, die das staubige, verrauchte Innere der Kathedrale durchdrangen.

Vor dem Altar und über der Krypta, in welcher der Heilige begraben lag, stand die geöffnete Truhe.

Am höchsten Punkt der Kuppel, dort wo die Seitenschiffe auf den Mittelgang trafen, hing an Seilen eine große Silberschale herab. Sie enthielt Weihrauch, der das riesige Gotteshaus mit seinem süßlich dumpfen Geruch erfüllte. Tausend Kerzen trugen mit ihrem Rauch dazu bei, den Heiligenschrein zu einem Ort voller Geheimnisse, Düfte und Schatten zu machen, zum geeigneten Ort für ein Wunder.

In den Seitenschiffen hatten sich etwa zweihundert Leute auf die Knie fallen lassen. Man sah Priester und Soldaten, Mönche und Kaufleute, Gelehrte und Klosterbrüder. Das waren die Männer, die in Spanien die Nachricht verbreiten sollten, dass Santiago Matamoros auferstanden sei. Sie würden einem unterworfenen Volk erzählen, dass man seinen Schutzmächten die gebührende Huldigung erwiesen, die gebührenden Worte gesprochen hatte, indem man das mächtige Gonfalon, das einst über dem Massaker der Heiden geweht hatte, aufs Neue entfaltete.

Es war, als hätte man endlich Drakes Trommel geschlagen, als sei der Boden von Avalon in stürmischer Finsternis geborsten, um eine Schar wieder erwachter Ritter zu entlassen, als habe Karl der Große, geweckt aus jahrhundertelangem Schlaf, sein Schwert gezogen, um die Feinde Christi zu vertreiben. Jede Nation hatte ihre Legende, und an diesem Abend sollte im mächtigen, hallenden Dom der Kathedrale die tausendjährige Stille um Spaniens Legende gebrochen werden. Die Kerzen erzitterten von einem kalten Luftstrom, während sich die Priester in ihren Roben vor dem Altar verneigten.

Und als sie sich verneigten, ging eines der westlichen Portale der Kirche auf, als habe sich ein heftiger Wind der hölzernen Türflügel bemächtigt und sie gegen die Steinmauer geschlagen. Jene Soldaten, die vor dem Altar knieten, drehten sich nach dem Geräusch um und griffen nach ihren Degen. Louisa, die verschleiert neben Blas Vivar kniete, keuchte auf. Die Priester unterbrachen ihren Redestrom, um festzustellen, wer es wagte, die Anrufung zu unterbrechen.

Vivar stand auf. Sharpe war in die Kathedrale gestürmt und erschien nun unter dem Himmelstor. Der Spanier rannte den langen Mittelgang entlang.

»Warum sind Sie hier?«, rief er aufgebracht.

Sharpe sah sich mit irrem Blick um und antwortete nicht. Er spähte in jeden Winkel der Kathedrale, als rechne er damit, dort Feinde vorzufinden. Als er keine entdeckte, wandte er sich wieder dem westlichen Portal zu.

Vivar streckte die Hand aus und hielt den Schützen auf. »Warum sind Sie nicht bei den Barrikaden?«

»Er hat seinen Säbel in der rechten Hand gehalten!«, rief Sharpe. »Verstehen Sie denn nicht? In der rechten Hand! Oberst de l'Eclin ist Linkshänder!«

Vivar starrte ihn verständnislos an. »Wovon reden Sie?«

»Dort draußen sind dreihundert dieser Schweinehunde versammelt.« Sharpes Stimme erhob sich und hallte vom hohen Gemäuer des Mittelschiffs wider. »Nur dreihundert! Und keine im Süden. Wo sind also die Übrigen? Haben Sie hinter den Säcken im Keller nachgesehen?«

Vivar sagte nichts. Das war auch nicht nötig.

»Haben Sie die Keller durchsucht?«, beharrte Sharpe.

»Nein.«

»Deshalb hält sich Ihr Bruder dort auf! Deshalb haben sie sich auf eine Waffenruhe eingelassen! Deshalb haben sie die Vorräte dorthin gerettet! Deshalb haben sie alles vorbereitet! Verstehen Sie denn nicht? De l'Eclin ist im Palast! Er ist den ganzen Tag über dort gewesen und hat sich über uns lustig gemacht! Und er wird hierher kommen!«

»Nein!« Vivars Tonfall ließ Entsetzen durchblicken.

»Ja!« Sharpe riss sich von Vivar los. Er überquerte erneut die Schwelle des Himmelstors, ohne seine Erhabenheit wahrzunehmen, und riss die Außentür der Kathedrale auf.