Ein Triumphgeschrei und die Siegesfanfare einer Trompete hielten ihn zurück. Sharpe sah, wie verhüllt durch Kerzenqualm und Weihrauch ein Banner entfaltet wurde. Kein altes, zerschlissenes, von Motten zerfressenes Banner, das an der Luft zu Staub zerfiel, sondern ein neues, herrlich weißes Banner aus schimmernder Seide mit einem roten Kreuzzeichen: das Gonfalon Santiagos. Und als es ausgebreitet wurde, begannen die Glocken zu läuten.
Das war der Moment, in dem die Vorschlaghämmer jene Planken niederrissen, mit denen man die Franzosen im Palast eingeschlossen hatte. Die Glocken läuteten, auf dass ein Wunder geschehe, und die Franzosen brachen, wie es immer ihre Absicht gewesen war, die Waffenruhe.
Von beiden Seiten des Palastes griffen französische Dragoner an. Sie mussten aus dem rückwärtigen Tor des Gebäudes gekommen sein, wo die Ställe lagen, und während die Infanteristen aus dem zentralen Portal strömten, stürmten die Reiter den westlichen Vorplatz. Das einzige Hindernis, das ihrem Angriff entgegenstand, war die niedrige Barrikade, von der aus eine Hand voll unberittener Cazadores eine klägliche Salve abschoss und dann die Flucht ergriff.
»Sergeant! Die Fußangeln!« Sharpe schob Harper zur südlichen Flanke der Kathedrale, dann nahm er selbst zwei Säcke in die Hand und brüllte seinen Männern zu, ihm auf den nördlichen Vorplatz zu folgen.
Die komplizierte Treppenflucht an der Westfront der Kathedrale konnte die Kavallerie nicht überwinden. Stattdessen hatten die Dragoner vor, das Heiligtum zu umzingeln, sodass niemand entkommen konnte, der sich drinnen aufhielt. »Rifles! Nicht schießen! Nicht schießen!« Sharpe wusste, dass es keinen Sinn hatte, eine Salve zu verschwenden. Die Fußangeln mussten diesen ersten französischen Ansturm aufhalten.
Es war ein bedrohlich tiefer Sprung von der Steinfläche an der Fassade der Kathedrale hinab auf die Plaza, aber Sharpe hatte keine Zeit, die Stufen zu benutzen. Er sprang und kam so heftig auf, dass ihm vom linken Knöchel ein stechender Schmerz ins Bein fuhr. Diesem Schmerz durfte er keine Beachtung schenken, denn die Niederlage war in eine Nähe gerückt, die der Reichweite eines Dragonersäbels entsprach.
Seine Männer folgten ihm. Als sie auf die Steinplatten auftrafen, ging ein Stöhnen durch ihre Reihen.
Sharpe zerrte die Säcke in nördliche Richtung. Er konnte die Reiter zu seiner Linken sehen und wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben, die grässlichen Dorne im Engpass unter der Brücke auszustreuen, die zum Bischofspalast führte.
»Dort entlang! Wartet auf mich!«, rief er seinen Schützen zu, dann schwang er den ersten Sack, sodass sich die Fußangeln klirrend über die enge Stelle verteilten. »Zu mir, Sergeant!«, brüllte Sharpe Harper zu, doch seine Stimme wurde vom Geschrei der Franzosen übertönt und vom Gellen ihrer Trompeten. Er griff nach dem zweiten Sack und schüttete ihn aus. Die metallenen Dorne rollten und purzelten über den Boden. Sharpe hatte sie so ausgestreut, dass der enge Durchgang blockiert wurde.
Harper war verschwunden. Sharpe drehte sich um und rannte seinen Männern nach. Über ihm läuteten die Glocken. Eine Trommel schickte herausfordernde Klänge gen Himmel. Er wusste nicht, ob der Sergeant in Sicherheit war, ob er es geschafft hatte, den Zugang zur Plaza an der Südflanke der Kathedrale zu blockieren.
»Front bilden! In zwei Reihen antreten!«, rief Sharpe den Schützen zu. Hinter ihnen kamen Männer in panischer Flucht aus dem westlichen Teil der Kathedrale gerannt.
Das erste Pferd verletzte sich an einem Dorn. Das Eisen drang in die Gabel seines Hufs, und dann erschienen weitere Pferde. Sie stellten sich auf die Hinterhand, wieherten, bäumten sich verzweifelt auf vor Schmerzen. Männer wurden aus den Sätteln geworfen. Ein Pferd, das in seiner Pein die Orientierung verloren hatte, machte kehrt und stürmte quer über den Platz. Ein Zweites stieg so hoch auf, dass es rückwärts umfiel. Sein Reiter schrie auf, als er unter seinem stürzenden Pferd begraben wurde.
»Noch nicht schießen!« Die Schützen waren fünfzehn Yards hinter den Fußangeln in Linie angetreten. Nun ging es ums Ganze. Die französische Infanterie würde den westlichen Treppenaufgang stürmen und in die Kathedrale eindringen. Sie würde noch mindestens eine Minute brauchen, bis sie den Ausgang aus dem Seitenschiff erreicht hatte und hinter Sharpe ins Freie strömen würde. Dann kamen auch schon die Ersten, sahen die Pferde leiden und machten sich daran, mit Fußtritten die eisernen Dornen beiseitezuschaffen. Sie wurden von einem Unteroffizier angeführt.
»Hagman!«, rief Sharpe. »Bring den Schweinehund um!«
»Sir.« Hagman kniete nieder, zielte und schoss. Der Unteroffizier vollführte einen Salto rückwärts, und aus seiner Brust ergoss sich ein Blutstrom. Da wurden die Infanteristen zum ersten Mal auf die Schützen aufmerksam.
»Feuer!«, brüllte Sharpe.
Die Salve war nicht groß, aber sie vergrößerte an dieser engen Stelle Chaos und Schmerz. Es war überflüssig, die Grünjacken zur Eile anzuhalten. Sie wussten ebenso gut wie Sharpe, wie schmal in dieser dunkler werdenden Stadt der Grat zwischen Leben und Tod war. Sie zur Eile zu ermahnen hätte sie nur nervös gemacht.
Sharpe drehte sich um. Die letzten Teilnehmer an Vivars Gottesdienst rannten die Stufen herab. Ein spanischer Offizier trug das Gonfalon, das man hastig in schimmernde Falten gelegt hatte. Zwei Priester rafften ihre Kutten hoch und rannten in östlicher Richtung davon. Louisa erschien auf der Treppe, und Sharpe sah, wie zwei Cazadores ihr ein Pferd brachten. Auch Vivar stieg in den Sattel und zog seinen Degen.
»Sie sind in der Kathedrale!«, rief er Sharpe zu.
»Ruhig Blut, Schwerter aufsetzen!« Während die Schwertbajonette befestigt wurden, sah sich Sharpe nach Harper um, doch der Ire war immer noch nirgends zu sehen. In der Stadt wurden Schreie laut. Die Trompeten klangen schrill durch die Abendluft. Es würde kalt werden heute Nacht. Frost würde die Steinplatten versilbern, auf denen die Franzosen sich für die am Tage erlittenen Schmähungen rächen würden.
»Ruhig Blut!« Die Fußangeln hatten den Feind aufgehalten und seinen Männern ermöglicht nachzuladen. Aber die Masse der französischen Berittenen wartete immer noch jenseits der Dornspitzen, die nun in verzweifelter Hast von der Infanterie beiseitegeräumt wurden. Musketenkugeln schlugen über den Schützen ein, aber die Dragoner schossen aus dem Sattel und nahmen sich nicht genug Zeit zu zielen. Sharpe wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben. Er legte die Hände an den Mund. »Sergeant! Sergeant Harper!«
»Ziehen Sie sich zurück, Lieutenant!«, rief Vivar jetzt aufgeregt Sharpe zu.
»Sergeant Harper!«
»Schweinehunde!« Die Stimme kam von der Spitze jener Stufen, die zum südlichen Seitenschiff führten. Sharpe wirbelte herum. Nachdem er seine Fußangeln verteilt hatte, musste Harper erkannt haben, dass er Sharpe nicht erreichen konnte, wenn er an der Westfront der Kathedrale entlang rannte. So hatte er den kürzeren Weg durch die Kathedrale gewählt, und nun erschien er, einen französischen Offizier mit der linken Hand hinter sich herschleifend. »Dieser Schweinehund!«, rief der Ire aufgebracht. »Er hat versucht mich umzubringen, der Schweinehund!« Er trat nach dem Franzosen, drosch auf ihn ein. Dann drehte er sich um und warf den Mann zurück ins düstere Innere der Kathedrale.
Vivar, der hinter den Türflügeln weitere Gestalten ausmachte, schoss mit einer Pistole ins Seitenschiff hinein.
»Sir!« Hagman warnte ihn, dass soeben die letzten Fußangeln weggeräumt wurden.
»Anlegen!«, brüllte Sharpe. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!«, rief er Harper zu.
»Der Halunke hat versucht, mich mit dem Säbel zu durchbohren! In einer Kirche, Gott sei's verdammt! Einer Kathedrale! Können Sie es glauben, Sir?«
»O mein Gott! Und ich dachte, ich hätte dich verloren!« Sharpes Erleichterung, dass Harper überlebt hatte, war aufrichtig und tief empfunden.