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Mr. Ismay war aufgestanden, um Linda Hornby, die 22-jährige Schwester von John Pierpont Morgan jun., seinem amerikanischen Geschäftspartner, und ihren Mann Graham zu begrüßen. Die beiden hatten in der Vorwoche in London geheiratet und befanden sich nun auf der Hochzeitsreise nach New York.

»Ich hoffe, ich kann den Sohn des Konkurrenten mit unserer Olympic einigermaßen beeindrucken«, sagte Bruce Ismay an Graham Hornby gewandt.

»Mr. Hornbys Vater hat auch mit der Schifffahrt zu tun?«, erkundigte sich Sherlock Holmes interessiert.

»Ihm gehört die Northern Steamships Ltd. Mit der Hochzeit zwischen Pierpont Morgans Tochter und Hornbys Sohn haben sich nicht nur zwei wunderbare junge Menschen gefunden. Es sind sich damit auch zwei große Unternehmen näher gekommen.«

»Gewäsch! Elendes, verlogenes Gerede!«, unterbrach Mrs. Farland die Ansprache von Bruce Ismay, der verwundert aufblickte.

»Sie haben den Tod meines Mannes auf dem Gewissen, Sie, Mr. Ismay und all Ihre Verbündeten. Und das aus niedrigsten Beweggründen, wie ich den Zeitungen entnahm. Ich werde dafür sorgen, dass Sie auf diesem Schiff keine ruhige Minute haben.«

»Ich versichere Ihnen, dass Ihre Anschuldigung zu Unrecht erfolgt. Ich habe Mr. Holmes gebeten, zu ermitteln, ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Und Sie werden eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages erkennen, dass ich von dem furchtbaren Ereignis mindestens so getroffen bin wie Sie, Madam. Ich verlor einige meiner engsten Mitarbeiter auf jener Reise.«

»Aber Sie selbst leben.«

»Ich mache mir das immer wieder zum Vorwurf. Es war ein merkwürdiger Zufall, dass ich in das Rettungsboot gelangte. Ich weiß …«

»Mit Verlaub, Mrs. Farland«, wandte sich Sherlock Holmes an die verbitterte Witwe, »ich denke, wir sollten niemandem die Tatsache, dass er nicht in den eisigen Fluten umgekommen ist, zum Vorwurf machen. Auch Sie leben noch.«

»Und das ist manchmal schwer genug. Sie entschuldigen mich bitte«, sagte Hilda Farland und verließ den Tisch.

»Man kann von Glück reden, dass man das nicht miterleben musste«, sagte der achte Gast am Tisch. Es handelte sich dabei um den etwa 30-jährigen Assistenten von James R. Faber, um Mr. John Hatter, den Holmes bereits im Office der Royal-Maritime-Versicherung kennengelernt hatte.

»Mein Chef hat Interesse daran, dass ich das Ergebnis Ihrer Ermittlungen verfolge, Mr. Holmes. Zudem bedeutet die Reise eine willkommene Abwechslung in meinem Leben«, erklärte John Hatter dem Detektiv gegenüber seine Anwesenheit an Bord der Olympic.

Am Nebentisch fielen Holmes zwei kleine Mädchen auf. Die quirlige, etwa zehn Jahre alte Christine Reynolds und die im Gegensatz zu ihr stets ruhige und ernste Alice Harrison. Beide Mädchen und ihre Mütter hatten sich an Bord der Titanic befunden. Sie waren Halbwaisen, ihre Väter waren bei dem Unglück ums Leben gekommen. Mit Interesse beobachtete Holmes, auf welch merkwürdige Art sich Alice mit ihrer Mutter und deren Begleiter, einem Mann Anfang Vierzig, verständigte.

Alice nickte, wenn man mit ihr sprach, oder sie schüttelte verneinend den Kopf. Manchmal schrieb sie etwas auf einen Notizblock und reichte diesen den Erwachsenen, die mit ihr redeten. Sie selbst sprach kein einziges Wort.

»Die Mumie trägt Schuld am Fluch der Titanic. Ich weiß es aus den Karten«, beendete Mrs. Oldman-Smythe eine längere Erzählung.

»Sie erwähnten den Namen William Thomas Stead, Mrs. Smythe«, schaltete sich Robert Conolly in das Gespräch ein.

»Oldman-Smythe«, verbesserte ihn die Wahrsagerin.

Holmes, dem ein Dessertlöffel entglitten war und der sich unter den Tisch gebeugt hatte, um ihn aufzuheben, sah, dass Mrs. Oldman-Smythe körperlichen Kontakt mit dem Bräutigam von Pierpont Morgans Tochter hatte. Mit ihrem rechten Fuß berührte sie den linken Schuh von Graham Hornby. Linda Hornby bemerkte von alldem nichts, denn sie aß mit Genuss von der Gänsestopfleber und lauschte gebannt der Geschichte, welche die Wahrsagerin erzählte.

»Sie erwähnten den Namen William Thomas Stead, Madam«, wiederholte der Journalist. »Ich finde das so bemerkenswert, weil er ein Kollege von mir ist, beziehungsweise war. Er arbeitete wie ich für die Pall Mall Gazette und …«

»Das ist alles sehr interessant, junger Mann. Lassen Sie mich dennoch fortfahren«, unterbrach ihn Mrs. Oldman-Smythe, die nun ihre Stimme etwas verstärkt hatte, um sich gegen die Weisen durchzusetzen, die die Bordkapelle zur Unterhaltung der Speisenden angestimmt hatte. Das Orchester spielte in voller Lautstärke Elgars Land of Hope and Glory.

Holmes' spezielles Interesse galt der enormen Fingerfertigkeit des Mannes, der auf der Violine spielte, so dass er nicht ganz bei der Sache war, als Mrs. Oldman-Smythe ihre Geschichte vom Fluch der Titanic fortsetzte.

»Durch seine Rücksichtslosigkeit brachte der Mann den Fluch über die Passagiere der Titanic.«

»Ich möchte William Stead verteidigen. Auch wenn er tatsächlich die Mumie an Bord der Titanic gebracht hat«, sagte schließlich Mr. Conolly.

»Daran besteht wohl kein Zweifel. Er hatte den mumifizierten Körper der Prinzessin Amen-Ra in seinem Kraftwagen verborgen, der im Laderaum des Schiffes untergebracht war. Das British Museum war froh, das gespenstische Objekt, in dessen Venen sich noch Blut befand, endlich loszuwerden. Menschen, die längere Zeit in dem Raum des Museums verweilten, in dem die Mumie ausgestellt war, begannen unter mysteriösen gesundheitlichen Problemen zu leiden. Sie bluteten aus Mund und Nase.«

»Wie alt, sagten Sie, war diese Prinzessin?«, fragte Holmes.

»Ich erwähnte ihr Alter bisher noch nicht.«

Dazu, dachte Holmes, war Madame wohl zu sehr beschäftigt.

Immerhin hatte Graham Hornbys Kopf mittlerweile eine ungesunde rote Färbung angenommen. Ein Umstand, der auch John Hatter nicht entgangen war. Auch Mr. Hatter war, als ihm eine Serviette heruntergefallen war, kurz unter die Tischdecke abgetaucht. Das Orchester spielte ein Medley fröhlicher Shanties, als der nächste Gang des Abendessens, gebratene Wildmedaillons in Cranberry Sauce mit Kartoffelkroketten, aufgetragen wurde.

»Die Mumie stammte, eigentlich stammt, aus dem 11. Jahrhundert vor Christi Geburt.« »Sie ist nicht mit ihrem Eigentümer und dessen Auto untergegangen?«, fragte Holmes.

»Nein. Und das ist das Erschreckende«, flüsterte Mrs. Oldman-Smythe. »Ich sah sie vom Rettungsboot aus, auf dem Wasser treibend, umgeben von einer roten Flüssigkeit, die wie Blut wirkte.«

Robert Conolly war der Nächste, der sich entschuldigte und den Tisch verließ. Ihm schienen seine Tabletten gegen Reisekrankheit nicht mehr zu helfen. Er war sehr bleich geworden.

»Von einer Mumie, die angeblich Unglück über das Schiff brachte, ist uns nichts bekannt«, meldete sich Bruce Ismay zu Wort. »Die RMS Titanic transportierte eine Fracht von beinahe 600 Tonnen, darunter die Verpflegung für die Passagiere. Und natürlich Briefe, Pakete. RMS steht ja für Royal-Mail-Ship. Zudem wurden für diverse Firmen Maschinen, Tücher, Filme, Bücher und Zeitschriften transportiert, in einem Gesamtwert von 420.000 US-Dollars.« »Also keine Mumie?«, versicherte sich Holmes.

»Definitiv nicht. Richtig ist, dass der Journalist einen Wagen an Bord hatte, einen Albion 15.«

»Sehen Sie«, meldete sich die Wahrsagerin zu Wort. »Sie sagen es selbst. In diesem Wagen war die Mumie verborgen. Ich habe den Fluch sozusagen am eigenen Leib verspürt. Mein Diamant, ursprünglich weiß, wurde schwarz, nachdem ich die blutende Schreckensgestalt auf der See treiben sah.«