»Eine interessante Geschichte«, meinte John Hatter etwas skeptisch. »Durch den Fluch wurde also das Collier um einiges wertvoller.«
»Sie sagen es. Aber nun muss ich mich wirklich zurückziehen. Die Pflicht ruft. Und die heißt bei mir Kunst.«
»Sie sind Malerin, Mrs. Oldman-Smythe«, stellte Holmes fest.
»Endlich jemand, dem mein Name ein Begriff ist. Sie sind ein gebildeter Mann, Mr. Holmes.«
Dieser lächelte still vor sich hin. Er hatte von den Farbresten unter Mrs. Oldman-Smythes' ansonsten perfekt gepflegten Fingernägeln auf ihre Beschäftigung geschlossen.
»Ich male Stimmungen der See. Das war auch der Grund, warum ich mich auf der Titanic befand. Leider sind alle Bilder, die ich damals schuf, ein Raub der See geworden. Ich hoffe doch sehr, dass die Reise dieses Mal anders verläuft. Ich werde jedenfalls früh aufstehen. Morgenstimmungen, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf dem Meer auftreffen, gehören zu den ergreifendsten Momenten eines Künstlerlebens.«
Nach dem Abgang der Malerin war es beinahe still an der Tafel.
Im Anschluss an das Mahl lauschte der Detektiv bei einem Glas Whisky den Klängen der Bordmusiker.
Christine, das Mädchen vom Nebentisch, kam in den Saal gelaufen und rief ihrer Mutter zu: »Kabine 23-C. Sie wohnt auf 23-C.«
»Nicht so laut, Kleines! Ich denke, es ist Zeit, dass du ins Bett kommst. Du bist selten so lange auf.«
»Ja, sonst«, erwiderte Christine. »Alice ist auch noch auf. Und die ist um ein Jahr jünger als ich.«
»Mit Alice ist das etwas anderes. Sie ist krank«, entgegnete ihre Mutter und erhob sich vom Tisch. »Du kannst noch bei ihr bleiben. In einer halben Stunde aber kommst du in unsere Kabine. Du kennst den Weg.«
Zurück blieben die blonde Christine, die dunkelhaarige Alice mit ihrer Mutter und deren Begleiter.
Die Mädchen zogen sich an einen leer gewordenen Tisch zurück, wo sie in einem Buch lasen. Christine las Alice aus A. E. Learys Der stille Junge vor.
Peter war durchaus kein stiller Junge in jenen Tagen, in denen unsere Erzählung beginnt. Er tollte mit seinen Freunden und Freundinnen durch den großen Garten, der dem mächtigen Herrn gehörte, den sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten. Immer nur hörten oder lasen sie von ihm. Und was sie von ihm hörten oder lasen, war gut. Der Herr, dem all das gehörte, war nicht nur sehr mächtig, er war auch gütig und weise.
Die Kinder glaubten das, denn es fehlte ihnen an nichts in diesem Garten. Es gab genug zu essen, sie konnten schreiben, lesen und rechnen, obwohl es keine Schule gab, sie spielten den ganzen Tag. Eigentlich war ihnen alles erlaubt. Mit einer Ausnahme. Sie durften sich der alten Eiche in der Mitte des Gartens nicht nähern. Das hatte ihnen zwar niemand ausdrücklich verboten, denn es gab keine Verbote im Garten des mächtigen Mannes, doch hatten sie davon gehört und gelesen. In der alten Eiche, die so alt sein mochte wie der Garten selbst, hause ein böser Geist, hieß es. Und dieser Geist dürfe nicht geweckt werden. An manchen Tagen entfernte sich Peter von den anderen Kindern, näherte sich der Eiche und betrachtete ihr schütteres Laubwerk, durch das alte, abgestorbene Äste zu erkennen waren.
Der Baum war nicht böse, dachte Peter, er war nur alt. Sehr alt. So wie der Herr, dem dieser Garten gehörte.
Und er beschloss, eines Tages auf den Baum zu klettern und ihn zu befragen.
Die Weisen, die das Bordorchester spielte, vermischten sich mit der hellen Stimme des Mädchens, das vorlas.
Der Detektiv betrachtete die beiden in das Buch vertieften Mädchen und lächelte. Eine merkwürdige Erzählung, die die Mädchen da lesen, fand er.
Er hörte, wie Mrs. Harrison zu ihrem Begleiter sagte: »Alice ist glücklich, wieder bei Christine zu sein.«
»Die Wiederholung der Reise im bekannten Umfeld ist wichtig für sie«, meinte dieser.
»Du denkst, sie wird wieder reden können?«
»Eines Tages sicherlich. Mir ist noch nicht klar, was die Ursache für den Sprachverlust war.«
»Im Rettungsboot hörte sie zu reden auf. Das Chaos muss sie so mitgenommen haben.«
Als sich der Speisesaal geleert hatte und die Kellner die Tische abzuräumen begannen, stellte auch das Orchester mit einem abschließenden Tusch seine Tätigkeit ein. Holmes war angetan von der Qualität der Musiker, besonders vom Talent des Geigers, eines schlanken jungen Mannes, der in einem etwas zu kleinen dunklen Anzug steckte.
Etwas später am Abend hatte man die Aufführung des ersten und bisher einzigen Spielfilms über das Titanic-Unglück angesetzt. In der Bar für die erste Klasse im 6. Geschoss der Olympic zeigte man Gerettet von der Titanic.
Miss Gloria Reynolds, im rosa Abendkleid, mit einer Kette aus falschen weißen Perlen geschmückt, begrüßte aufgeregt die Besucher der Vorführung und drückte jedem einzelnen von ihnen die Hand.
»Sie müssen wissen, dass ich an den Dreharbeiten mitwirken durfte«, flüsterte sie Sherlock Holmes zu. »Meine erste Rolle in einem Film. Weil ich wie die Hauptdarstellerin auf der Titanic war. Auch Christine ist zu sehen. Kurz.«
Als alle Besucher Platz genommen hatten, begrüßte der Zweite Offizier, Mr. Charles Farrard, die anwesende Künstlerin und die sehr geehrten Gäste.
»Mr. Roger Baudry, Student des Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris, wird das Geschehen, das in Gerettet von der Titanic gezeigt wird, mit seinem Geigenspiel begleiten. Alle wesentlichen Hinweise sind den Zwischentiteln zu entnehmen, die am Ende der Szenen eingeblendet werden. Die Vorführung dauert etwa zwanzig Minuten. Mrs. Reynolds, die in dem Film eine Freundin der Hauptdarstellerin mimt, war ebenso wie diese selbst Passagier der Titanic. Dasselbe trifft auf ihre Tochter Christine zu, die wegen der vorgerückten Stunde leider nicht anwesend sein kann. Sie hält sich schlafend in der Kabine auf. Die Hauptrolle in diesem teilweise in Farbe gedrehten Film spielt die amerikanische Schauspielerin Dorothy Gibson, der es ein persönliches Anliegen war, dass der Film auf dieser Gedenkfahrt vorgeführt wird. Sie lässt alle Damen und Herren, die sich hier eingefunden haben, grüßen. Ich wünsche Ihnen im Namen des Kapitäns und der gesamten Mannschaft interessante zwanzig Minuten.«
Das Licht erlosch, und auf der Leinwand erschien das ernste Gesicht einer jungen Frau in Großaufnahme. Sie bewegte unablässig den Mund, die Augen waren vor Schreck geweitet. Die eingeblendete Schrift verdeutlichte, dass Miss Dorothy ihrem Verlobten und ihren Eltern vom Untergang der Titanic erzählte, dem sie entronnen war.
Zum Glück, wie Holmes fand, kümmerte sich Monsieur Baudry kaum um das turbulente Geschehen auf der Leinwand. Er spielte in aller Ruhe Johann Sebastian Bachs Sonate No. 1 in g-Moll für Violine solo. Eine Rückblende zeigte die Heldin an Bord des Schiffes inmitten aufgeregter, Hände ringender Menschen. Ein leeres Rettungsboot wartete auf sie und weitere Passagiere. Aber keiner wollte es betreten.
Die Dramatik des Geschehens steigerte sich. Die Titanic geriet immer mehr in Schräglage, Miss Gibson wurde gegen die Reling gedrückt und sprang schließlich in das Letzte der Rettungsboote, die zu Wasser gelassen wurden. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin, dargestellt von Gloria Reynolds, die von ihrer kleinen Tochter Christine begleitet wurde. Das Boot glitt in die dunkle Weite des Ozeans.
Dann war die Schauspielerin wieder im Kreise ihrer Familie zu sehen. Vater und Mutter redeten heftig auf die Tochter ein. Die eingeblendeten Schrifttafeln zeigten, was sie ihr mitteilen wollten: »Du darfst diesen Mann nicht heiraten. Er ist ein Seemann. Sein Beruf ist zu gefährlich. Zu tückisch ist das Meer.«
»Ich werde ihn heiraten, trotz allem und ihm eine gute Frau sein. Ich liebe ihn und er liebt mich«, sagte die Schauspielerin am Schluss und fiel ihrem bärtigen Verlobten um den Hals.