»Schiffe wie die Titanic oder die Olympic machen nur Profit, wenn sie zu mindestens achtzig Prozent belegt sind«, führte Joseph B. Ismay weiter aus. »Wir haben, wie gesagt, keine Probleme mit der dritten Klasse, deren Passagiere trotz der geringen Ticketpreise auch am übrigen Luxus des Schiffes teilhaben. Sie können sowohl das Schwimmbad als auch die Trainingsräume benutzen. Die großen Suiten bleiben nahezu leer, und die Kabinen der ersten und zweiten Klasse lassen sich nicht einmal zur Hälfte füllen.«
»Das heißt, dass sich die White Star Line verschätzte, als sie die Olympic, die Titanic und die Britannic bauen ließ«, beteiligte sich Doktor Watson am Gespräch.
»Im Endeffekt ja. Aber niemand konnte das Unglück mit der Titanic voraussehen, und niemand konnte wissen, dass es zu diesem unseligen Krieg kommt, der die Passagiere dermaßen verunsichert und von Fahrten in die Vereinigten Staaten abhält. Als sich diese Entwicklung abzuzeichnen begann, hatten wir schon alles Geld in die großen Schiffe investiert, und die Konkurrenz, zu der ich vor allem Cunard und die Northern Steamships zähle, reagierte rasch mit kleineren Schiffen, die mit weniger Besatzung auskommen und daher billiger operieren können.«
»Graham Hornby, einer Ihrer Hauptkonkurrenten, befindet sich an Bord der Olympic«, stellte der Kapitän fest.
»Verheiratet mit der Tochter J. P. Morgans. Wie grotesk!«, stöhnte Bruce Ismay. »Im Übrigen bedaure ich es außerordentlich, dass Mr. Conolly nicht, wie vorgesehen, mit uns speist. Ich schätzte ihn, obwohl er in seinen Artikeln diese furchtbaren Anschuldigungen gegen mich und J. P. Morgan erhoben hatte. In anderen Worten: Ich bin zutiefst getroffen von seinem plötzlichen Ableben.«
»Auch ich bedaure das. Mr. Conolly war ein anregender Reisebegleiter«, sagte Holmes. »Und dann noch der Diebstahl von Mrs. Oldman-Smythes Kette. Die Dinge kommen in Bewegung.«
»Sie scheinen Gefallen an den Vorfällen zu finden, Mr. Holmes«, wunderte sich Bruce Ismay.
»Gefallen ist übertrieben. Wenn es um große Verbrechen geht, und ein solches vermute auch ich hinter dem Untergang der Titanic, kommt es zwangsläufig zu Begleiterscheinungen wie diesen, die es erst ermöglichen, wirklich in einen Fall zu blicken. Ich vergleiche Phänomene dieser Art mit Fieber, das auf eine tiefer liegende Erkrankung eines Organismus schließen lässt.«
»Sie meinen, Mr. Conolly wurde ermordet?«, fragte Mr. Ismay.
»Im weitesten Sinne, ja. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen.«
»Wenn Sie einen Verdacht bezüglich des Diebstahls der Kette von Mrs. Oldman-Smythe haben, Mr. Holmes, kann ich den Auftrag erteilen, die Kabinen zu durchsuchen«, meinte Kapitän Hayes.
»Ich habe eine leise Ahnung«, erwiderte Holmes, »werde diese aber noch genaueren Überprüfungen unterziehen, bevor ich mich an Sie wende. Vielen Dank, Kapitän. Hatten Sie übrigens schon ein Gespräch mit den Brüdern Ihres Vorgängers?«
»Mit den Brüdern von Kapitän Smith? Noch nicht. Wir haben uns auf Ersuchen der Herren für den Nachmittag verabredet. Sie kennen meine Ansicht zu Smith und ich bedaure, dass ich den Herren nichts anderes sagen kann.«
»Welche Route nehmen wir auf unserer weiteren Fahrt, Kapitän?«, brachte Watson das Gespräch auf ein anderes Thema.
»Die Winterroute. Wir steuern einen Korrekturpunkt bei 42 Grad Nord und 47 Grad West an und drehen dann auf westlichen Kurs, bis wir New York erreichen. Die Strecke verläuft so weit südlich, um die kalten Gewässer des Labradorstroms mit ihren Eisbergen zu vermeiden.«
»Wir befahren eine andere Route als die Titanic?«, erkundigte sich Watson.
»Nein. Es ist der übliche Weg aller Passagierschiffe. Sie können aber beruhigt sein, meine Herren. Wir haben seit dem Unglück zusätzliche Rettungsboote an Bord.«
»Und zwei Eisbrecher fahren einige Meilen voraus, um jedes Risiko auszuschließen. Wir sind in ständigem Funkkontakt mit ihnen«, ergänzte Mr. Ismay. »Was natürlich die Kosten weiter in die Höhe treibt.«
»Sie geben also der White Star Line keine Zukunft«, resümierte Holmes.
»Es fällt mir schwer, dies im Beisein des sehr geschätzten Kapitäns Hayes sagen zu müssen: Ich bin im Augenblick in großer Sorge und hoffe, dass eine Rehabilitation unserer Linie durch Sie, Mr. Holmes, nach den katastrophalen Zeitungsartikeln die Wende zum Besseren bringen wird.«
»Der Tod eines Passagiers erleichtert meine Aufgabe keineswegs.«
»Mr. Holmes, Mr. Holmes, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, rief Mrs. Vera Oldman-Smythe dem Detektiv vom Promenadendeck entgegen. Als dieser nicht reagierte, ließ sie die Seelandschaft im Morgenlicht, an der sie gerade arbeitete, im Stich und lief dem Detektiv nach. »Ich entschuldige mich in aller Form für meine unbedachte Äußerung am frühen Morgen. Der Diebstahl meiner Kette brachte meine Nerven derart in Aufruhr, dass ich nicht mehr Herrin meiner selbst war.«
»Entschuldigung angenommen«, sagte Holmes knapp und wollte weitergehen.
»Ich habe einen Verdacht, Mr. Holmes. Heute Morgen fiel mir ein Mann auf, den ich vorher nie gesehen hatte. Er wirkte wie ein Schauspieler, irgendwie unecht. Ich vermute, er hat etwas mit dem Diebstahl zu schaffen.«
»Beschreiben Sie ihn bitte, Mrs. Oldman-Smythe.«
»Ich fertige eine Skizze an.« Die Malerin zeichnete mit wenigen Strichen die Gestalt eines Mannes auf ein Blatt Papier.
»Interessant. Sie sind wahrlich eine Meisterin Ihres Faches. Auch mir ist dieser Mann bereits begegnet. Ich teile Ihre Meinung, dass er nicht das ist, was er vorgibt zu sein.«
»Ich werde mich erkenntlich zeigen, wenn Sie mir die Kette wiederbeschaffen. Sie ist mir sehr wichtig.«
»Erzählen Sie mir die Geschichte des Colliers. Wie ist es zu Ihnen gekommen, wem gehörte es vorher?«
»Viel davon ist sehr privat und delikat. Ich kann nur so viel sagen, dass ich es für … wie soll ich sagen … für meine Diskretion erhielt.«
»Dafür dass Sie etwas, das Sie wissen, nicht an die Öffentlichkeit bringen?«, ließ der Detektiv nicht locker.
»Ich bin keine Erpresserin.«
»Das habe ich damit auch nicht gemeint.«
»Dann lassen wir es gut sein. Ich bekam die Kette für, wie ich schon sagte, meine Diskretion.«
»Sie erzählten gestern Abend, als Sie uns die Karten legten, vom Fluch der Titanic, der den vormals hellen Diamanten dunkel verfärbte. Der Stein veränderte doch nicht tatsächlich die Farbe. Sie wollten jemandem an unserem Tisch oder in der Umgebung ein Zeichen geben. Verschlüsselt, symbolhaft.«
»Ihre Phantasie in Ehren, Mr. Holmes«, lachte die Wahrsagerin gekünstelt. »Ich werde mich nun wieder meiner eigenen Phantasie hingeben und an meinem Bild arbeiten.«
Es war früher Nachmittag, die Sonne schien noch immer und die See war bemerkenswert ruhig, als Holmes die Bibliothek in der vierten Etage der Olympic aufsuchte. Alice, ihre Mutter und deren Begleiter sowie Christine und deren Mutter hielten sich dort auf. Die Sonne schien mild in den Raum, auf dessen Teppichboden ausgestreckt die beiden Mädchen gemeinsam in einem Buch lasen.
»Entschuldigen Sie, meine Damen, mein Herr. Ich arbeite als Detektiv im Auftrag der White Star Line«, sprach Sherlock Holmes die drei Erwachsenen an, die an einem ausladenden Lesetisch saßen und in Zeitungen blätterten.
»Ich weiß, Mr. Holmes. Ich las darüber in der Presse«, sagte Mrs. Sarah Harrison.
»Darf ich Sie fragen, was der Grund für diese Reise ist?«, fuhr Sherlock Holmes fort und wurde mit einem Zischen von Seiten der Bibliothekarin bedacht, die einige Bücher in die Regale schichtete. Sie bekräftigte diesen Laut der Missbilligung, indem sie den rechten Zeigefinger an ihren dunkelrot geschminkten Mund führte und damit andeutete, dass in der Bibliothek nicht gesprochen werden dürfe.