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»Ich lade Sie beide auf einen Drink in die Empfangshalle ein. Die Mädchen sind, so glaube ich, hier in besten Händen.«

Als Holmes in Begleitung des Ehepaares Harrison und Miss Reynolds sowie den beiden Mädchen den Raum verließ, nickte ihnen die für ihr Alter bemerkenswert attraktive Bibliothekarin freundlich zu.

»Ihre Frage nach dem Grund für die Reise ist nicht ganz leicht zu beantworten. Sie berührt ein Thema, das uns sehr beschäftigt, Mr. Harrison und mich. Ich verlor meinen ersten Mann beim Untergang der Titanic. Mit Raymond bin ich seit einem Jahr verheiratet. Er adoptierte Alice.«

»Das Mädchen ist stumm«, stellte Sherlock Holmes fest.

»Seit der Schiffskatastrophe spricht sie nicht mehr. Und wir … eigentlich war es die Idee meines Mannes … dachten …«

»Ich schlug Sarah vor, die Reise zu wiederholen, als ich von dieser Gedenkfahrt las«, sagte Mr. Harrison. »Vielleicht können Erinnerungen in Alice geweckt werden, die es uns ermöglichen, den Grund für ihre Aphasie zu verstehen und ihr zu helfen, sie zu überwinden.«

»Sie sind Arzt?«

»Nervenarzt. Es gelang mir auch, den Kontakt mit Miss Reynolds herzustellen, mit deren Tochter Christine unsere Alice während der Unglücksfahrt in ständigem, engem Kontakt gestanden hatte. Miss Reynolds war so freundlich, die Reise mit uns gemeinsam anzutreten, obwohl dadurch auch für sie unangenehme Erinnerungen geweckt werden.«

»Der Hauptgrund Ihrer Reise, Mrs. Reynolds, ist es also, Alice und ihren Eltern zu helfen?«, wandte sich Holmes an die Angesprochene.

Nach einer Pause des Nachdenkens sagte die Schauspielerin: »Es ist einer der Gründe, ja. Ich nutze die Reise aber auch beruflich. Ich habe ein zweimonatiges Engagement in New York.«

»Als Schauspielerin?«

»So ist es. Am Candler Theater. Ich reise gemeinsam mit einem Kollegen.«

»Wo hält sich Ihr Kollege auf, Mrs. Reynolds?«

»Eigentlich Miss Reynolds. Ich war nie verheiratet.« Nach einer Pause setzte sie fort: »Mein Kollege reist dritter Klasse. Mr. und Mrs. Harrison haben mir die Reise erster Klasse ermöglicht. Ich bin ihnen für die Unterstützung sehr dankbar.«

»Ich hoffe, dass alle Ihre Absichten für diese Reise, sofern sie nicht anderen Menschen schaden, in Erfüllung gehen«, schloss Sherlock Holmes das Gespräch.

Mr. und Mrs. Harrison bedankten sich für diesen Wunsch. Miss Reynolds jedoch war sehr ernst geworden und blickte lange forschend in seine unergründlichen grauen Augen.

Sie ist eine gute Schauspielerin, dachte Holmes. Sie beherrscht die Kunst des Timings, eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Schauspielkunst. Sie setzt verschiedene Geschwindigkeiten des Handelns und eine Abfolge von Reden und Schweigen durchaus wirkungsvoll ein.

Beim großen Abendessen um sieben Uhr waren wieder alle vollzählig versammelt. Mrs. Oldman-Smythe war etwas stiller an diesem Abend. Sie machte Holmes darauf aufmerksam, dass sie den merkwürdigen Fremden wieder gesehen hatte, wie er die Gänge entlang gehuscht sei, verstohlen wie ein Dieb.

»Auch ich habe ihn beobachtet«, sagte Sherlock Holmes.

»Und? Haben Sie ihn verhört, ihn festgenommen, seine Kabine durchsuchen lassen?«, fragte die Malerin und verschluckte sich beinahe an einem Stück Heilbutt in Fenchelsauce. Dr. Watson kam der voluminösen Frau zu Hilfe, indem er sie aufforderte, beide Arme in die Höhe zu strecken, und ihr dann leicht auf den Rücken klopfte. Ein warmer, dankbarer Blick der Malerin und Wahrsagerin streifte Watson. Den Detektiv strafte sie mit einem bösen Blick, als er ihr knapp mitteilte, er werde sich des Mannes annehmen.

»Und wenn das Collier nicht über Bord gegangen ist, werde ich es finden.«

Das Orchester spielte Melodien aus Mozarts Zauberflöte, jener Oper, in der das Schweigen von besonderer Bedeutung war. Am Ende des Mahls verkündete der Dirigent des kleinen Bordorchesters, man lade alle Musikinteressierten herzlich zu einer konzertanten Aufführung der Zauberflöte in die Empfangshalle ein.

»Nach einer kurzen Einführung in den Inhalt der Oper werden Ms. Valentina Cologna und Mr. Fredrick Frenton, zwei hervorragende Sänger, begleitet von den Herren des Orchesters, Arien aus dieser humorvollen Oper zum Besten geben. Zum Abschluss der Aufführung, gegen halb zwölf Uhr, wird Champagner gereicht. Ich hoffe in meinem Namen und im Namen der Sänger und Musiker, dass Sie Interesse an dieser Veranstaltung haben.«

Holmes, den die Musik Mozarts an eine Dame seiner Vergangenheit erinnerte, nämlich an die Opernsängerin Irene Adler, war fest entschlossen, durchzuhalten, obwohl ihm die Seeluft gehörig zusetzte und er schon ziemlich müde war.

Dr. Watson konnte ebenfalls die Augen kaum mehr offen halten, er folgte aber Sherlock Holmes und war gewillt, weiter an seiner Seite auszuharren.

»Mrs. Watson lässt Sie grüßen«, sagte er zu Holmes.

»Soso. Und über welches technische Medium soll ihr das gelungen sein?« Holmes gab sich skeptisch.

»Über Funk natürlich. Per Telegramm. Zuerst von mir, dann die Antwort von Elsa. Der Funker, vor dessen Arbeitsplatz übrigens eine lange Schlange von Passagieren wartete, erzählte mir von den großen Fortschritten in der Nachrichtentechnik seit dem Jahr 1912. Die Grußbotschaften der Passagiere behinderten damals die eingehenden Warnungen vor Eisbergen. Der Funker versicherte mir, dass diese Fehlerquelle nun ausgeschaltet sei und dass es auf der Olympic ein eigenes System für die Passagiere gebe.«

»Lassen Sie Mrs. Watson von mir grüßen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen auf meiner Heimfahrt in die South Downs. Falls ich diese je antreten werde.«

»Was meinen Sie damit, Holmes?«, erkundigte sich Watson erschrocken.

»Unsere Gegner werden sich soeben ihrer schwierigen, wenn nicht gar aussichtslosen Lage bewusst. Sie spüren den Bluthund, … ach entschuldigen Sie, Watson, die beiden Bluthunde, auf ihrer Spur und werden alles unternehmen, uns auszuschalten. Aber wir sind besser als die Gegner und werden triumphieren. Nicht wahr, Doktor?«

»Das hoffe ich doch sehr.«

Bald prangt, den Morgen zu verkünden,

Die Sonn' auf goldner Bahn –

Bald soll der finstre Irrwahn schwinden,

Bald siegt der weise Mann. –

O holde Ruhe, steig hernieder;

Kehr in der Menschen Herzen wieder;

Dann ist die Erd' ein Himmelreich,

Und Sterbliche den Göttern gleich. –

Als das Konzert gegen Mitternacht endete und John Watson sich in seine Kabine zurückgezogen hatte, begab sich Holmes noch auf das Promenadendeck. Der Himmel war klar, die Sterne leuchteten, der Mond nahm zu. Das Meer war so ruhig, dass sich das Licht des Mondes und der größeren Sterne darin spiegelte, in einer riesigen grauschwarzen, schimmernden Fläche, die den Detektiv an den Glanz von Mrs. Oldman-Smythes Diamanten erinnerte.

Ein Schrei, ein fürchterlicher Schrei, riss Holmes aus seiner Betrachtung. Mrs. Farland, die Witwe, die Bruce Ismay mit ihrem Zorn verfolgte, stürmte auf den Detektiv zu.

»Ich habe … ich habe einen Geist gesehen! Und sagen Sie nicht, dass ich wahnsinnig werde. Er stand vor mir so wie Sie jetzt, Mr. Holmes.«

»Beschreiben Sie die Erscheinung, Mrs. Farland.«

»Was gibt es da zu beschreiben. Er war es!«

»Wer?«

»Der Journalist. Mr. Conolly. Er kam mir entgegen, als ich meine Kabine aufsuchen wollte.«

»Glauben Sie an Geister, an Wesen, die noch nicht ins Jenseits eingegangen sind, die in einer Zwischenwelt hausen, bis Sie Ruhe finden?«