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»Bisher nicht, Mr. Holmes. Obwohl …«

»Ja, Mrs. Farland?«

»Obwohl mir, seitdem ich mich auf diesem Schiff befinde, immer wieder mein Mann erscheint. Im Traum, als ob er leben würde. Ich bin so glücklich, ihn zu sehen. Und dann erwache ich und bin allein. Allein mit meinem Kummer und dem Hass auf mich selbst, dass es mir nicht gelungen ist, ihn an Bord des Rettungsbootes zu bringen, oder dieses zu verlassen und mit ihm gemeinsam zu sterben.«

»Wir alle sind keine Götter, die in jedem Augenblick ihres Lebens das Richtige tun«, sagte Holmes. »Und wenn wir die Unvollkommenheit der Welt betrachten, kommen uns selbst in Bezug der Unfehlbarkeit der Götter Zweifel. Erhebliche Zweifel.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Holmes. Ihre Worte trösten. Es ist nicht leicht, alles allein bewältigen zu müssen.«

»Sehen Sie, Mrs. Farland, genau das ist es, was Ihnen diese Reise aufzeigt.«

»Was, Mr. Holmes?«

»Ich wiederhole Ihre Worte: Es ist nicht leicht, alles allein bewältigen zu müssen. Ich füge hinzu: Es ist nicht gut. Und es ist nicht gut, wenn Wut und Zorn die einzigen Gefühle im Leben einer Frau sind.«

»Ich werde darüber nachdenken. Danke!«, verabschiedete sich die trotz ihrer neunundfünfzig Jahre noch jugendlich wirkende Frau.

Den Vormittag des dritten Tages an Bord der Olympic verbrachte Holmes wieder in der Bibliothek, beschäftigt mit der Lektüre der Bordzeitung, die täglich neu gedruckt wurde.

Sie enthielt einen Überblick über das Weltgeschehen und Berichte über vergangene und künftige Ereignisse an Bord des Schiffes. Der Tod von Robert Conolly und der Verlust von Mrs. Oldman-Smythes Collier wurden nicht erwähnt. Sehr wohl aber enthielt die Zeitung eine Aufstellung der Passagiere, die an diesem Montag, dem 12. April, Geburtstag hatten, ohne Erwähnung des Alters, versteht sich.

Für den Nachmittag war eine Vernissage mit dem Titel Stimmungen der See von Mrs. Oldman-Smythe angekündigt, die um 15 Uhr vom Kapitän persönlich im Rauchsalon eröffnet werden sollte. Die Bibliothek war wiederum nur spärlich besucht. Außer Holmes waren noch drei Männer und zwei Frauen anwesend, und die beiden Mädchen Alice und Christine, dieses Mal ohne ihre Mütter. Sie saßen an einem der Tische, jede in ein Buch vertieft. Dicke Tränen liefen über Alices Wangen.

Holmes erhob sich aus seinem Ledersessel und begab sich zu der attraktiven Miss Ronstead, der etwa 60-jährigen Bibliothekarin mit den dunkelrot gemalten Lippen.

»Es ist nötig, mit den Mädchen zu sprechen. Aus verschiedenen Gründen. Ich werde flüstern und ersuche Sie höflich, nicht einzugreifen.«

Miss Ronstead schaute Holmes erstaunt an. »In diesem Fall werde ich mich für einige Zeit entfernen. Was Sie in dieser Viertelstunde hier machen, soll mein Problem nicht sein.«

»Ich danke Ihnen sehr.«

»Keine Ursache. Ich habe erfahren, wer Sie sind und dass Sie von Ihrem Biographen John Watson begleitet werden. Ich liebe seine Bücher, die über Ihre Fälle berichten. Ich habe alle in der Bibliothek aufgestellt. Denken Sie, es ist möglich, einen Leseabend zu veranstalten, bei dem Dr. Watson oder Sie, Mr. Holmes, aus den Büchern vorlesen?«

»Auf der Rückreise, Miss Ronstead, falls es uns vergönnt ist, diese anzutreten.«

»Ihr Wort?«

»Mein Wort.«

»Gut, dann überlasse ich Ihnen mein Reich für einige Zeit zu treuen Händen.«

Holmes begab sich zu den beiden Mädchen und stellte sich als der Detektiv Sherlock Holmes vor.

»Wenn ihr Sorgen oder Wünsche habt, wenn ihr ein Rätsel gelöst haben wollt, wendet euch an mich. Ich arbeite kostenlos für euch.«

Alice Harrison hob stumm ihren Kopf und wischte sich die Tränen von den Augen.

»Wer hat die Kette der komischen Malerin gestohlen?«, fragte Christine Reynolds.

»Ich bin der Täterin, oder dem Täter, auf der Spur. Ich glaube, dieses Rätsel wird bald gelöst.«

VERNISSAGE

»Wer war es?«, fragte das Mädchen den Detektiv und wirkte dabei gar nicht glücklich. »Wer hat den Edelstein der Frau gestohlen?«

»Du wirst doch nicht selbst dahinter stecken, Christine? Als Kopf einer Diebesbande?«

»Nein, ich schwöre, ich war es nicht«, beteuerte das blonde Mädchen und hatte Tränen in den Augen.

»Gut. Ich schenke dir Glauben. Was lest ihr, meine Damen, das euch so traurig macht?«

»Ich habe ein sehr spannendes Buch«, begann Christine, wurde dann aber verlegen.

»Arsène Lupin, der Meister der Diebe. Verdächtig, verdächtig«, murmelte Holmes. »Aber ich habe schon gesagt, dass ich von deiner Unschuld überzeugt bin. Und ein wirklich erfahrener Detektiv ändert seine Meinung nur im äußersten Notfall. In welches Buch hast du dich vertieft, Alice?«

Das Mädchen hielt einen Finger in das Büchlein, damit es nicht zuklappte, dann drehte sie es um, damit der Detektiv den Titel lesen konnte. A. E. Leary, Der stille Junge.

»Und was ist so traurig an dieser Geschichte, dass es dich zum Weinen bringt, Alice?« »Das Buch erinnert uns an Peter«, sagte Christine. »Peter. Ein Junge, den ihr beide gern habt.« Alice nickte heftig. »Peter Farland. Wir lernten ihn vor drei Jahren kennen. Er war schon fast erwachsen. Und so schön. Er hatte langes blondes Haar«, erzählte Christine. Dicke Tränen rollten aus Alices dunklen Augen. »Er kam bei dem Unglück ums Leben«, stellte Holmes fest. Beide Mädchen nickten und Alice barg ihr Gesicht in beiden Händen.

»Das ist eine wirklich traurige Geschichte, die auch mich fast zum Weinen bringt«, sagte Sherlock Holmes. »Was für eine schreckliche Katastrophe!«

»Wir haben seine Granny gesehen, aber …«

»Ihr habt noch nicht mit Mrs. Farland gesprochen?«

»Nein«, antwortete Christine. »Alice kann nicht mit ihr reden und ich habe es noch nicht gewagt. Sie ist so stolz, so abweisend. Schon bei der ersten Fahrt. Ihr Mann war viel freundlicher. Wir hatten viel Spaß mit ihm und Peter.«

»Seid ihr einverstanden, wenn ich euch zu einem Gespräch mit Mrs. Farland begleite?«

Christine zögerte, aber Alice nickte mehrmals und faltete bittend ihre Hände.

»Ich bringe euch zu ihr.« Holmes erhob sich. Alice eilte ihm nach, Christine folgte den beiden etwas zögernd.

Holmes klopfte an die Tür zu Hilda Farlands Kabine. »Zwei Damen würden gerne mit Ihnen reden, Mrs. Farland. Sie haben Ihren Enkel Peter gekannt und ihn sehr gemocht.«

Die schlanke Frau öffnete und in einer heftigen Bewegung hob sie beide Hände und hielt sie abwehrend gegen den Detektiv.

»Nein, bitte nicht«, flüsterte sie.

»Ich werde mich in dieses Gespräch unter Frauen nicht einmischen«, meinte Holmes, »und mich diskret zurückziehen.«

»Kommt herein, Mädchen«, sagte Mrs. Farland schließlich. »Wir können reden.«

Der Detektiv kehrte in die Bibliothek zurück, wo er sich an den Platz setzte, den die Kinder verlassen hatten. Er nahm das geöffnete Buch, das die Abenteuer des stillen Jungen erzählte, und begann zu lesen.

Sollte er oder sollte er nicht?

Peter, der Junge mit den langen blonden Haaren, stand wieder vor der uralten Eiche im Garten des mächtigen Mannes, in dem die Kinder so glücklich lebten. Sollte er sich dem verbotenen Baum, den ein böser Geist bewohnte, wie es in den Büchern hieß, nähern, oder sollte er das Verbot beachten und den Baum meiden?

Dieses Mal entschloss sich Peter – er war ein tapferer Junge, der vor nichts und niemandem Angst hatte –, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Was sollte schon passieren?

Er ging auf den alten Baum zu, hörte das leise Rauschen seiner spärlich gewordenen Blätter, berührte die raue Rinde des mächtigen Stammes.