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Der Baum schien zu atmen, zu leben. Er schien gut zu sein.

Eine Öffnung, die in das Innere der Eiche führte, lud geradezu ein, hineinzuklettern.

Auch in der Höhle fühlte sich Peter wohl. Es war angenehm warm.

»Wer bist du? Was machst du hier?«, fragte eine tiefe Stimme.

Peter erschrak. Er dachte, die Eiche spreche zu ihm. Als er aber nach oben blickte, erkannte er die leuchtenden Augen eines Vogels. Sie gehörten zu einer Eule.

»Ich bin Peter. Ich gehöre zu den Kindern, die im Garten des mächtigen, weisen und gütigen Mannes wohnen.«

»Weise und gütig«, wiederholte der weiße Vogel mit verächtlichem Ton in der Stimme. »Das redet man euch ein. Willst du die Wahrheit wissen?«

Als Peter schwieg, wiederholte die Eule ihre Frage.

»Welche Wahrheit?«, fragte er schließlich etwas zaghaft.

»Die Wahrheit über den Alten.«

»Natürlich«, antwortete Peter.

»Ich bin so alt wie er, oder sogar älter. Ich kenne ihn von Anfang an. Und ich kann bestätigen, dass er sehr gescheit ist und auch mächtig. Er hat den Garten tatsächlich so geschaffen, wie er ist, mit Ausnahme dieses Baumes. Der ist älter als wir alle. Ja, der Mann ist mächtig, aber er ist nicht gütig und nicht weise. Er kann brutal sein, grob, und er hat schon getötet.«

»Was sagst du da?«

»Er hat im Zorn getötet.«

»Wen hat er getötet?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Aber …«

»Du hättest nicht hierher kommen sollen, wenn du die Wahrheit nicht erträgst.« »Aber …« Als die Eule schwieg, kletterte der Junge traurig aus dem Baum.

Auf dem Weg zu den anderen Kindern erkannte Peter mit einem Mal, dass die Eule recht hatte. Zum ersten Mal sah er tote Käfer, auch ein Reh lag reglos neben dem Bach. Und er erinnerte sich, dass immer wieder Kinder verschwunden und nie mehr zurückgekommen waren.

»Was ist los mit dir? Du schaust so traurig«, begrüßten ihn die Gefährten.

Der blonde Junge schwieg. Er spielte weiter mit ihnen, aber redete nicht mehr. Er wollte die anderen Kinder nicht beunruhigen.

Diese gewöhnten sich bald an das neue Verhalten ihres Freundes und nannten ihn den stillen Jungen.

Holmes hatte sich in den Zeilen dieses Buches verloren, als ihn die Stimme von Watson in die Gegenwart der Schiffsbibliothek zurückholte.

»Hier sind Sie, Holmes!«, sagte der Doktor mit einer für die Schiffsbibliothek beachtlichen Lautstärke. Als er die Bibliothekarin sah, die wieder ihren Platz eingenommen hatte, senkte er jedoch seine Stimme zu einem Flüstern und entschuldigte sich für die Störung.

»Sie dürfen alles, Dr. Watson«, beruhigte ihn die Bibliothekarin. »Ihr Freund Sherlock Holmes stellte mir in Aussicht, dass Sie auf der Rückreise einen literarisch-kriminalistischen Abend gestalten werden. Das heißt, dass Sie aus Ihren Romanen lesen und Sherlock Holmes einige Anmerkungen dazu abgeben würde.«

»So, also das überrascht mich wirklich. Mr. Holmes ist sonst nicht sehr angetan, im Zusammenhang mit meinen Romanen in Erscheinung zu treten. Obwohl dies natürlich die Verkaufszahlen heben würde.«

»Ich denke, die Bücher verkaufen sich auch so nicht schlecht«, unterbrach ihn Holmes. »Aber ich finde, im Falle von Miss Ronstead, der Hüterin der Ruhe und des geschriebenen Wortes auf diesem Luxusliner, ist eine Ausnahme durchaus angebracht. Darf ich nach Ihrem Vornamen fragen, Miss Ronstead?«

»Joyce. Joyce Alexandra Ronstead«, hauchte die Bibliothekarin.

»Wir sehen uns, Miss Joyce«, verabschiedete sich Holmes, der Watson auf den Gang folgte.

»Ich wollte Sie zur Vernissage abholen, nicht ahnend, dass ich Ihre delikaten Avancen störe«, erklärte Watson.

»Alles für die Lösung des Falles. Wie immer«, schmunzelte Holmes.

»Bis auf einige Ausnahmen.«

»Bis auf eine einzige Ausnahme. An die ich hier und heute nicht erinnert werden will. Sie haben den Fall Irene Adler weiß Gott in Ihren Romanen genug breitgetreten.«

»Da haben wir es wieder! Und nun wollten Sie den gegenwärtigen Fall, wohl einen der spektakulärsten Ihrer Karriere, von einem Journalisten dokumentieren lassen.«

»Hüten Sie Ihre Zunge, Watson, sonst lasse ich Sie festnehmen wegen Verdachts des Mordes an dem armen Mann. Mord aus schnöder literarischer Eifersucht.«

»Ja, wenn wir es beide nicht besser wüssten, bestünde die Gefahr einer solchen Verdächtigung. Ach, die Vernissage hat schon begonnen.«

»Wir versäumen nichts. Mrs. Oldman-Smythe ist mitten in ihrer Ansprache. Der Champagner ist noch in den Flaschen«, beruhigte Holmes seinen Begleiter, als sie die Empfangshalle betraten, an deren Wänden Bilder der Malerin hingen.

Eine kleine Gruppe von etwa dreißig Passagieren, angeführt von Kapitän Hayes, saß vor der Künstlerin, die in Beschreibungen der wilden Schönheit des Meeres schwelgte, während einige der anwesenden Damen und Herren schon sehnsüchtig auf die Lachs- und Kaviarbrötchen lugten, die sich gefällig zur Linken von Mrs. Oldman-Smythe türmten. Die Gläser und die Champagnerflaschen standen rechts von ihr.

»Das Meer, jene riesige Wasserfläche, die über zwei Drittel unseres Erdballs einnimmt, besitzt Sanftheit und Gewalt. Es gibt Leben, es tötet, es heilt und verstümmelt. Es ist Mutter, Vater, Gott und Teufel, Mann und Frau zugleich, wie alles Leben. In ewiger leidenschaftlicher Verbindung mit dem Wind und der Sonne wechselt es sein Aussehen von Minute zu Minute. Mal zeigt es sich unbewegt, unergründlich, dann wieder spielerisch. Ich habe in meinem Testament festgelegt, dass ich nach meinem irdischen Hinscheiden für immer mit diesem Element verbunden sein will. Ich habe verfügt, dass meine Asche ins Meer …«

»Ihre Bilder sind gar nicht so schlecht wie das, was sie darüber sagt«, flüsterte Holmes dem Doktor zu.

»Das ist bei Vernissagen leider so üblich«, meldete sich Bruce Ismay ebenfalls leise zu Wort. »Die Bilder sind wirklich gut. Die roten Punkte an den Rahmen zeigen, welche Gemälde schon verkauft sind.«

»Vier«, flüsterte Holmes. »Beachtlich. Und das schon vor Beginn der Ausstellung. Da wird sie sich bald eine neue Kette kaufen können.«

»… darauf hinweisen, dass sämtliche meiner Bilder zu erwerben sind, außer denen, die schon Interessenten gefunden haben. Ich möchte meine Schöpfungen, die wie Kinder für mich sind, jedem einzelnen von Ihnen ans Herz legen. Die Preise sind nicht niedrig, aber Sie erwerben damit nicht nur eines meiner Gemälde, sondern auch mein spezielles Wohlwollen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Kapitän John Hayes las von einem kleinen Zettel eine fertige Rede über die Rolle der Kunst an sich ab. Sie klang, als ob er sie schon öfter gehalten habe.

»Es gibt da einen Ausspruch des französischen Schriftstellers Bruyère: Es ist ein Unglück, nicht genug Geist zu haben, um eine Rede zu halten und nicht genug, um zu schweigen. Ich hoffe, er ist als Kapitän etwas begabter«, brummte Holmes und ergriff ein Champagnerglas, das ihm ein Kellner reichte. Dann wandelte er mit den übrigen Gästen der Ausstellungseröffnung von Bild zu Bild und betrachtete wohlgefällig jene Aquarelle, die keine Gegenstände mehr zeigten, die nur aus Farbe und Stimmung bestanden.

Besonders lang verharrte der Detektiv vor einem Gemälde, das seiner Thematik wegen aus der Reihe der restlichen Bilder hervorstach. Es zeigte kein Wasser, keine Wolken und kein Schiff, sondern einen blühenden Kirschzweig.