Ein roter Punkt am Rahmen zeigte Holmes, dass das Bild bereits einen Abnehmer gefunden hatte.
Beim Abendessen attackierte Mrs. Farland erneut den Eigentümer der Schifffahrtslinie, Mr. Bruce Ismay. Dieser gab sich betroffen und schwieg, was den Zorn der Witwe deutlich abkühlte.
Sherlock Holmes erkundigte sich inzwischen bei John Hatter, dem Mann, der für die Royal-Maritime-Versicherung ein Netz von Funkkontakten errichtet hatte, wie weit der Schiffsfunk der Olympic reiche.
»Ich habe mich aus beruflichem Interesse für das Nachrichtensystem der Titanic interessiert. Sicherlich wurde dieses in den drei Jahren, die seither vergangen sind, weiterentwickelt«, beantwortete der Mann die Frage.
»Und wie sah dieses konkret aus?«, erkundigte sich Sherlock Holmes weiter.
»Die Titanic konnte über 350 bis 400 Seemeilen senden und empfangen. Bei besonders günstigen Bedingungen, besonders des Nachts, sogar bis zu 2.000 Meilen.«
»Das Problem bei der Titanic war«, schaltete sich Bruce Ismay in das Gespräch ein, froh darüber, auf ein anderes Thema zu kommen, »dass 1912 die Funktechnik erst in ihren Anfängen steckte und wir sie der Erzeugerfirma der Geräte, der Firma Marconi, überließen, die auch das Personal stellte. Das war einer der Gründe, warum die Kommunikation zwischen Funkstation und Kommandobrücke bei den Eiswarnungen nicht ideal funktionierte.«
»Die Namen der Funker von damals tauchen nicht in der Mannschaftsliste auf«, bemerkte Sherlock Holmes.
»Nein. Das überließen wir der Firma. Das ist, wie gesagt, heute anders. Wir haben auf der Olympic unsere eigenen Leute. Wenn Sie Interesse haben, organisiere ich eine Führung durch den sogenannten Bauch des Schiffes. Für mich ist das immer wieder ein gewaltiges Erlebnis.«
Holmes, Watson, Mrs. Vera Oldman-Smythe, John Hatter und Mr. Harrison, Alices Adoptivvater, meldeten sich zu dem Rundgang in Bereiche des Dampfers, die den Passagieren sonst nicht zugänglich waren. Auch Graham Hornby, der Juniorchef der Northern Steamships, Bruce Ismay und die Smith-Brüder schlossen sich an. Linda Hornby, die Tochter von J. P. Morgan, entschuldigte sich wegen heftiger Kopfschmerzen. Für eine Frau in den Flitterwochen wirkte die 22-Jährige wahrlich unglücklich.
»Der technische Bereich des Schiffes sowie die Laderäume nehmen die untersten drei Etagen ein. All dies ruht auf einem Doppelboden. Am gewaltigsten erscheinen die drei Vierzylinder-Kolben-Dampfmaschinen, deren Abdampf in eine Parsonsturbine geleitet wird, die über Schraubenwellen die drei Schiffsschrauben antreibt. Die Energie stammt von Heizkesseln, die mit Kohle befeuert werden.«
Hitze, Lärm, das Geschrei halbnackter, mit Kohlestaub und Öl bedeckter Männer empfingen die Besucher des Rundganges.
»Die Olympic«, erklärte der Kapitän weiter, »hat ein gewaltiges Kohlenlager für insgesamt 6.700 Tonnen. Wir verbrennen in 29 Kesseln mit 159 Feuerungen an die 640 Tonnen Kohle am Tag.«
»Die Männer haben komfortable Quartiere«, erklärte Bruce Ismay. »Wir haben zwei Mannschaften, die einander abwechseln, so dass genügend Zeit für Reinigung, Nahrungsaufnahme und Erholung bleibt.«
»Es erinnert mich von der Hitze und den Gerüchen her an Beschreibungen der Hölle. Eine faszinierende, aber Furcht erregende Welt«, sagte Mrs. Oldman-Smythe.
»Würde es Sie nicht reizen, die Unterwelt der Olympic zu malen?«, erkundigte sich Dr. Watson.
»Eine phantastische Idee, die durchaus etwas für sich hat«, kam die Antwort der Künstlerin.
Es folgten die Laderäume, der Postraum, die Kohlelager und Heizkessel, die Kolben-Dampfmaschinen, die Turbine, Provianträume mit Frischwassertanks, Schraubenwelle, Ersatzteillager, Propeller und Ruder am Heck des Dampfers. Die Gesamtlänge der Olympic vom Bug bis zum Heck betrug an die 886 Fuß.
»Alles was mit Navigation, aber auch mit Be- und Entladung zu tun hat, befindet sich in den obersten Etagen des Schiffes, von den Ladekränen über das Krähennest, die Kommandobrücke, den Funkraum bis hin zum Kompass«, bemerkte der Kapitän zum Abschluss des eineinhalbstündigen Rundgangs durch den Rumpf des Schiffes. »Vielleicht ergibt sich auf dieser Reise noch die Möglichkeit, Ihnen auch in diesen Teil des Schiffes Einblick zu geben.«
Als Holmes in seine Suite zurückkehrte, wurde er von einem Steward erwartet. Der Mann hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Auf dem Tisch stand ein leeres Whiskyglas.
»Der Bräutigam verbrachte die Nacht mit der Malerin«, teilte er Holmes mit.
»Sie meinen, Graham Hornby suchte die Kabine von Mrs. Oldman-Smythe auf.«
Der Steward nickte.
Der 13. Juni, ein Dienstagmorgen, machte einem Unglückstag alle Ehre. Mrs. Vera Oldman-Smythe war nicht zum Frühstück erschienen. Die Stewards fanden sie auch nicht in ihrer Kabine. Die Männer durchkämmten das Schiff systematisch von ganz oben nach unten, konnten aber außer der verlassenen Staffelei auf dem Promenadendeck mit einem unvollendeten Gemälde der nun immer stürmischer werdenden See keine Spur von Mrs. Oldman-Smythe entdecken.
»Frau über Bord«, hieß es daher. Die Malerin, die schon am frühen Morgen zu arbeiten begonnen hatte, musste in den Atlantik gestürzt und dort umgekommen sein.
Sherlock Holmes und Dr. Watson untersuchten die Stelle auf dem Promenadendeck, wo der Klappstuhl und das letzte Bild der Künstlerin standen.
»Der Seegang ist nicht schuld an Mrs. Oldman-Smythes Verschwinden«, stellte der Detektiv fest. »Staffelei und Stuhl stehen unverrückt nebeneinander. Ich vermute einen kräftigen Mann hinter dem Anschlag, einen Mann, der Mrs. Oldman-Smythe über die Reling katapultierte, was bei der etwas fülligen Dame durchaus einer beachtlichen sportlichen Leistung entspricht.«
»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen, Holmes?«, fragte Watson.
»Doch. Sie fehlt mir in ihrer Aufgewühltheit und Unruhe. Eine Frau, die glaubte, das eigentliche Leben stünde noch bevor, eine rastlose Kämpferin für das eigene Wohlbefinden. Andererseits verkündete sie öffentlich ihren Wunsch, eines Tages ihre Asche in das Meer zu streuen, und dem kommt die Tatsache, dass sie über Bord ging, doch ziemlich nahe.«
»Was für ein Nachruf!«, kritisierte der Doktor indigniert.
»Wenn Sie sich selbst äußern wollen, Watson, dann tun Sie es. Ich lausche Ihren Worten mit Interesse.«
»Möge ihr Ende nicht allzu schrecklich gewesen sein. Möge Gott sie in sein Reich aufnehmen!«, sagte Watson.
»An Ihnen ist ein Pastor verloren gegangen«, brummte Holmes. »Und nun nehme ich mir die Kabine der Verschollenen vor.«
Der Detektiv untersuchte in Kabine 23-C jedes Detail aus dem Gepäck der Malerin, besonders ihre Schreibutensilien und Briefe, fand aber nichts Außergewöhnliches. Als der Kapitän ihm mitteilte, dass im Tresorraum des Schiffes eine Kassette aus dem Besitz von Mrs. Oldman-Smythe aufbewahrt wurde, bat Holmes, ihm diese zu überlassen. Der Detektiv benötigte über eine halbe Stunde, das Schloss des Stahlbehälters zu öffnen. Darin befanden sich Ringe, Ohrgehänge und Ketten von beträchtlichem Wert. Auf einem Briefumschlag standen die Worte: Zu öffnen im Falle meines Todes.
Holmes dachte an ein Testament und brach das Siegel. Im Kuvert steckte ein einziges Blatt Papier, auf das die Malerin die Worte einer Bibelstelle geschrieben hatte.
Dies sind die Namen der Helden Davids: Jasobeam, der Sohn Hachmonis, ein Vornehmster unter den Rittern; er hob seinen Spieß auf und schlug achthundert auf einmal. Nach ihm war Eleasar, der Sohn Dodos, des Sohnes Ahohis, unter den drei Helden mit David. Nach ihm war Samma, der Sohn Ages des Harariters.
»Ein interessanter Hinweis«, fand der Detektiv, dann wandte er sich mit einer Bitte an den Kapitän. »Damit auf der weiteren Reise auf diesem Schiff nicht noch mehr tragische Ereignisse eintreten, muss ich ein Gespräch mit Mr. Ismay führen. Könnten Sie ihn bitte zu mir schicken lassen?«