Sherlock Holmes bat Bruce Ismay dringend, seine Suite aufzugeben und in die Kabine des Detektivs zu ziehen. Ohne Aufsehen und ohne, dass sonst jemand davon erfuhr.
»Und Sie verlassen den Raum nur in meiner Begleitung.«
»Warum diese Vorsichtsmaßnahme, Mr. Holmes? Ich fühle mich nicht gefährdet. Außer der unglücklichen Frau, die ihren Mann und ihren Enkel verlor, hat kein Passagier mich in irgendeiner Weise beschimpft. Und ich glaube nicht, dass Mrs. Farland zu einer Gewalttat fähig ist.«
»Es ist Ihre Entscheidung, Mr. Ismay. Ich habe Gründe, Ihnen diesen Vorschlag zu machen«, sagte Holmes ruhig.
»Dann werde ich selbstverständlich Ihrem Wunsch nachkommen.«
Beim dritten Abendessen der Erinnerungsfahrt gedachte die Tischgesellschaft des zweiten Menschen, der ihnen auf dieser Fahrt abhanden gekommen war. Dennoch nahm der Abend rasch den üblichen Verlauf. Man genoss ein erlesenes Mahl, begleitet von den Weisen der Bordkapelle.
Und Mrs. Farland startete einen ihrer schon zur Gewohnheit gewordenen Angriffe auf Bruce Ismay. »Was Sie an Unglück über so viele Menschen gebracht haben, durch Ihre Gier. Am liebsten würde ich Sie ohrfeigen!«, zischte sie diesem beim Abendessen zu.
»Darf ich Sie, Mrs. Farland, und Sie, Mr. Ismay, zu einem Gespräch in meinem Beisein in den Rauchsalon bitten?«, unterbrach Mr. Holmes die Tiraden der Frau. »Nach dem Abendmahl. Ich denke, es gibt viel zu sagen, und ich werde darauf achten, dass keiner die Grenzen des anderen überschreitet. Ich für meinen Teil – und wenn Sie damit einverstanden sind, dass mich Doktor Watson begleitet – erhoffe mir von der Aussprache einen Eindruck von der Gewalt des Unglücks, das die Titanic traf. Etwas, das auch meine Vorstellungskraft übersteigt.«
»Ich bin dazu bereit«, sagte Bruce Ismay. »Es ist mir ein Bedürfnis, endlich meine Sicht der Ereignisse darstellen zu können. Ich möchte jedoch zwei weitere Gesprächsteilnehmer einbinden, die Brüder des Kapitäns der Titanic, Reginald und Bertram Smith.«
»Von meiner Seite besteht kein Einwand dagegen«, meinte Holmes. »Ich begrüße es, die beiden Herren näher kennenzulernen.«
»Ich werde kommen, auch wenn es mir schwerfällt, besonders nach der berührenden Begegnung mit den beiden Mädchen, die meinen Enkel noch in so lieber Erinnerung haben.«
Mrs. Farland brach in Tränen aus und Watson reichte ihr ein Taschentuch.
FRAUEN UND KINDER ZUERST
»Frauen und Kinder zuerst«, sagte Mrs. Farland im Rauchsalon des Schiffes. »Jedes Mal, wenn ich diese Worte höre, glaube ich den Verstand zu verlieren. Frauen und Kinder zuerst. Man stieß mich in eines der Rettungsboote. Ich musste zusehen, wie mein Mann und mein Enkel weggedrängt wurden. Peter, schrie ich, Peter ist doch ein Kind. Wo ist Peter? Peter wurde mit seinen dreizehn Jahren als zu alt empfunden und durfte nicht im Rettungsboot bleiben, obwohl es nur halb voll war. Ein hässliches Durcheinander, die Hölle. Ich habe noch den unangenehmen Körpergeruch jener Frau in Erinnerung, die mich schlug, als ich wieder an Bord der Titanic zu meinem Mann, zu Peter, zurückwollte.«
»Auch ich wollte nicht gerettet werden«, meldete sich Joseph Bruce Ismay zu Wort. »Ich wollte mit dem Schiff untergehen. Mit meinem Schiff. Ein Matrose warf mich wie ein Gepäckstück in weitem Bogen in das Rettungsboot, dass ich vor Schmerz aufschrie …«
»Ich bitte Sie, verschonen Sie mich mit Mitleid heischenden Reden«, unterbrach ihn Mrs. Farland. »Einer der Hauptgründe, warum die Katastrophe derartige Ausmaße annahm, lag in der Tatsache, dass die Titanic nicht genügend Rettungsboote mit sich führte.«
»Das stimmt«, bestätigte Mr. Ismay. »Darf ich Ihnen aber den Grund dafür in aller Ruhe, aus meiner Sicht, darstellen?«
Mrs. Farland nickte stumm.
»Die Erbauer der drei Schiffe, der Titanic, der Olympic und der Britannic, beschritten natürlich mit dem Entwurf dieser größten Schiffe der Welt Neuland. Es waren aber nicht die ersten Passagierdampfer, die sie bauten. Harland & Wolff war eine erfahrene Werft. Jemand anderen hätte ich auch nicht damit beauftragt. Und diese Männer versicherten mir, dass es nichts auf der ganzen Welt geben könnte, das diesen Giganten aus Stahl gefährden könnte. Kein Sturm, kein Leck. Das Schiff sei absolut unsinkbar. Die Titanic, behaupteten sie, sei ihr eigenes Rettungsboot. Nun, ich glaubte den Aussagen der Ingenieure und beging den fatalen Fehler, nicht 64 Rettungsboote auf dem obersten Deck platzieren zu lassen, sondern nur 20. Ich wollte den Passagieren, die unser Schiff benutzten, beweisen, wie sicher es sei. Und ich wollte die Sicht der Passagiere vom Promenadendeck auf das Meer nicht durch zu viele Boote beeinträchtigen.«
»Sie Narr, Sie verdammter Narr«, beschimpfte ihn Mrs. Farland.
»Ja, Sie haben recht. Im Nachhinein teile ich Ihre harte Meinung. Ich kann zu meiner Verteidigung nur wiederholen, dass ich sicher war, das Schiff sei unverwundbar.«
»Wie haben Sie den Abend des 14. April 1912 erlebt, Mr. Ismay?«, fragte der Detektiv.
»Ja, das würde mich auch interessieren«, sagte Mrs. Farland.
»Wie jeder andere Passagier. Ich aß zu Abend mit meinen Mitarbeitern Mr. Fry, William Harrison und Ernest Freeman, und ich besprach mich mit Kapitän Smith. Die Fahrt verlief ungestört. Smith hatte, weil in diesem Jahr von ungewöhnlich großen Eisfeldern die Rede war, eine Route gewählt, die noch weiter südlich verlief, als dies üblich war. Das Meer war völlig unbewegt an diesem Abend, der Himmel sternenklar. Der Mond schien nicht. Es war Neumond.«
»Unser Bruder war ein erfahrener Seemann. Es ist auszuschließen, dass er das Unglück verursachte«, meldete sich Reginald Smith erstmals zu Wort.
Sein Bruder ergänzte: »Edward war seit 1880 bei der White Star Line, immer wieder auf Kurs nach New York. Sommer wie Winter. Kapitän wurde er 1887. Er arbeitete für die Navy im Burenkrieg.«
»Kein Zweifel, meine Herren«, sagte Bruce Ismay, »Edward John Smith war der erfahrenste Kapitän der White Star Line. Und genau das war der Grund, warum ich ihm das Kommando übertrug. Er ist in meinen Augen nicht schuld an der Katastrophe.«
»Wer dann? Wer ist schuld daran?«, fragte Mrs. Farland aufgebracht.
»Es gibt Verkettungen von unglücklichen Ereignissen, die letztlich zu schrecklichen Resultaten führen, ohne dass einzelne Menschen daran schuld sind.«
»Das sehe ich in diesem Fall nicht so«, sagte Sherlock Holmes und schloss eine Frage an: »Gab es Warnungen vor dem Eis, Mr. Ismay?«
Die Augen des Reedereibesitzers hatten einen traurigen Ausdruck angenommen, sein Schnurrbart hing kraftlos nach unten, als er zu erzählen begann: »Ja, die gab es. Andere Schiffe warnten vor einem Eisfeld, die Wassertemperatur war von plus sechs Grad auf Minusgrade gesunken. Kein Grund für Bedenken meinerseits, damals. Der Kapitän war erfahren, das Schiff ein Gigant. Und dann kam alles ganz, ganz anders. Auf der Titanic war es ruhig geworden an diesem schrecklichen Tag. Die letzten Passagiere bereiteten sich auf die Nachtruhe vor und auch ich hatte mich in meine Suite zurückgezogen. Das Schiff pflügte durch das Wasser.«
»Mit einer unverminderten Geschwindigkeit von 22 Knoten. Ohne Suchscheinwerfer und Ferngläser an Bord, wie die Journalisten der Gazette berichteten, als sie noch am Leben waren«, sagte Holmes.
»Ja, ja, all das ist richtig. Man darf aber nicht mit dem Wissen, das man heute, nach der schrecklichen Katastrophe, besitzt, an die Sache herangehen.«
»Erzählen Sie weiter, Mr. Ismay.«
»Es war kaum etwas zu spüren, als die Titanic mit dem Eis kollidierte, obwohl die Verwundung tödlich war. Zehn Fuß über dem Kiel, 290 Fuß lang. Meerwasser drang in den Kesselraum ein. Die schlafenden Passagiere wurden von dem schleifenden Geräusch nicht einmal geweckt.«