»Und Sie, Mr. Ismay?«, fragte Dr. Watson.
»Ich ahnte, dass etwas Bedeutsames geschehen war. Ich sah Eis vor dem Bullauge. Das Ausmaß der kommenden Katastrophe jedoch war mir nicht bewusst. Ich eilte zur Kommandobrücke, um dem Kapitän und seinen Offizieren beizustehen. Der Kapitän hatte sich entschlossen, mit halber Geschwindigkeit weiterzufahren. Man wollte dem Eisfeld ausweichen.«
»Ein schrecklicher Fehler«, meinte Holmes.
»Aus heutiger Sicht, ja. Durch die Bewegung gelangte immer mehr Wasser in das Schiffsinnere.«
»Mein Mann und ich erwachten nicht wegen eines Stoßes, sondern weil plötzlich absolute Stille herrschte. Das Schiff bewegte sich nicht mehr«, berichtete Hilda Farland. »Nur Peter schlief fest.«
»Wir hatten keine Ahnung, in welchem Ausmaß die Titanic beeinträchtigt war«, erklärte Mr. Ismay. »Ein Offizier war von seinem Rundgang zurückgekehrt und berichtete, dass das Schiff unversehrt sei. Wir konnten ihm keinen Glauben schenken. Also befahl ihm der Kapitän, die Inspektion zu wiederholen und begab sich selbst auf Tour. Thomas Andrews von Harland & Wolff und ich begleiteten ihn dabei. Kurz nach Mitternacht teilte uns Andrews mit, dass die Titanic sinken würde. Aber warum, fragten wir ihn, die Titanic galt als unsinkbar. Sie wird sinken, wiederholte Andrews, und Kapitän Smith begann die nötigen Schritte zu unternehmen. Rettungsboote klar machen, Reisende wecken und ihnen befehlen, die Korkwesten anzulegen.«
»Erst eine Viertelstunde nach Mitternacht ging der erste Hilferuf vom Schiff aus. Warum dauerte dies so lange?«, fragte Holmes.
»Sie haben sich detailliert mit den Berichten beschäftigt«, sagte Mr. Ismay.
Holmes nickte nur stumm und wartete auf eine Antwort. Als die nicht kam, wiederholte er seine Frage: »Warum kam der erste SOS-Ruf so spät?«
»CQD. Come quick, danger, und SOS«, sagte der Reedereibesitzer und fuhr stotternd fort: »Weil … ach, ich kann es nicht sagen. Es hat vermutlich mit der Psyche eines stolzen Kapitäns zu tun, der nicht glauben konnte, was da los war.«
»Tödlicher Dilettantismus. Erwachsene Männer, die sich wie kleine Jungs beim Indianerspiel aufführen. Unerträglich!«, schimpfte Mrs. Farland.
»Aber das ist doch nicht wahr!«, wehrte Bruce Ismay den Angriff ab. »Jeder Einzelne gab sein Bestes in der ausweglosen Situation. Die Titanic konnte nur deswegen die Funksprüche abgeben, weil die Heizer die Anweisung hatten, die Stromversorgung unter Einsatz ihres Lebens aufrecht zu erhalten. Und diese Anordnung kam von Kapitän Smith.«
»Was hat es mit dem Brand in einem der Kohlebunker auf sich, von dem die Journalisten berichteten, Mr. Ismay?«, fragte Holmes.
»Ein an sich nicht unüblicher Vorfall. Man versucht möglichst schnell zum Brandherd vorzudringen und verfeuert das glühende Material.«
»Evans und Conolly behaupteten, dass es diesen Schwelbrand vom Beginn der Reise an gegeben hatte. Er wurde bereits in Southampton entdeckt und ist einer der Gründe, warum das Schiff ständig mit Volldampf unterwegs war.«
»Es war nicht so dramatisch«, beschwichtigte Mr. Ismay.
»Und dann standen nur zwanzig Rettungsboote für die 2.208 Passagiere und Besatzungsmitglieder bereit, die sich auf dem Dach des Dampfers sammelten, wo die Rettungsboote hingen«, sagte Holmes.
»Der lange Zug der Menschen zu den Booten verlief dem Luxusliner angemessen ruhig und diszipliniert. Doch dann begann die eigentliche Katastrophe. Das Chaos, die Angst der Menschen. Gier und Angst. Gemeinheit und Heldentum«, sagte Mrs. Farland. »Das Bereitstellen der Boote erfolgte geordnet, wenn auch mit Schwierigkeiten. Zwei der Rettungsboote funktionierten nicht und blieben oben. Ein Glück wenigstens, dass das Meer ruhig war. Neben all dem Elend habe ich vor allem eine Erinnerung. Die Musiker der Bordkapelle waren an Deck gekommen und spielten, um uns zu beruhigen. Es klang heiter. Dann wurde das erste Boot hinuntergelassen, sieben Etagen weit, bis zum Wasser. Es war nicht ganz voll und Männer waren dabei. Verdammt, dachte ich mir. Warum wird ein Boot hinuntergelassen, das nicht voll besetzt ist? Warum übernahmen Sie nicht das Kommando, Mr. Ismay? Es fehlte eine ordnende Hand.«
»Wir hatten Angst, die Boote würden kippen, wenn sie voll besetzt wären. Wir mussten anfangs vorsichtig sein. Aber missverstehen Sie mich nicht, Mrs. Farland, ich will mich nicht verteidigen. Es ist unverzeihlich, was geschah. Meine eigene Erklärung, um nicht verrückt zu werden, ist die, dass wir mit unserem Schiff am Beginn einer Entwicklung standen, am Beginn dieses Jahrhunderts, und Lehrgeld zahlen mussten für die Zukunft.«
»Ich halte diese Aussage für unerträglich. Sie mussten gar nichts zahlen. Wir Passagiere zahlten zuerst mit Geld, dann mit dem Leben der liebsten Angehörigen«, fauchte Mrs. Farland.
»Ich gebe Ihnen wieder recht. Und ich nehme mich nicht aus von denen, die an ungeheuren Fehlern Schuld tragen. Es wurden zum Beispiel nicht alle Passagiere geweckt.«
Holmes wandte ein: »Nach den Artikeln von Conolly und Evans konzentrierte man sich zuerst auf die Rettung der Passagiere der ersten Klasse.«
»Es gab keinen Notfallplan, weil ein Notfall undenkbar war«, erklärte Bruce Ismay.
Mrs. Farland setzte fort: »Als das Schiff mit dem Bug immer tiefer ins Eiswasser tauchte, als sich alles auf dem Schiff in Schräglage befand, wurde mir klar, wie ernst die Lage war. Mein Mann hatte mich bisher beruhigt, der Junge wirkte gefasst, fast interessiert. Er plauderte mit den beiden Mädchen, die ihn so anhimmelten. Er wollte unerschrocken wirken. Ich muss gestehen, ich dachte, es seien Rettungsboote für alle vorhanden, und wir müssten nur geordnet warten, und alles werde gut. Signalraketen wurden in den sternenklaren Himmel abgefeuert und erhellten die Umgebung des Schiffes. Die Musikkapelle spielte weiter. Das zweite Boot wurde halb leer zu Wasser gelassen. Viele Frauen wollten nicht, dass ihre Männer allein zurückblieben, und Männer durften nicht mehr an Bord. Da schleuderte mich ein Mann aus der Besatzung mit voller Brutalität in das nächste, das dritte Boot. Seine Augen funkelten vor Zorn. Ihr werdet alle ersaufen, aus lauter Dummheit!, schrie er mit irischem Akzent. Peter!, rief ich. Peter ist ein Kind. Und dann wurde auch mein Enkelsohn in das Boot gestoßen, gemeinsam mit den beiden Mädchen. Ein Mann hat nichts im Boot zu suchen!, schrie ein erwachsener Mann, der schon im Boot war. Und er packte Peter an seinen langen blonden Haaren und schleuderte ihn in weitem Bogen auf das Schiff zurück, wo ihm mein Mann auf die Beine half.«
Alle schwiegen, jeder mit der Verarbeitung dessen beschäftigt, was Mrs. Farland soeben erzählt hatte. Es war unfassbar. Unerträglich.
Mit heiserer Stimme fuhr schließlich Bruce Ismay fort: »Wenigstens wurden die Passagiere der ersten Klasse nicht gegenüber den Zwischendeckleuten bevorzugt. Die fünf Millionäre an Bord kamen alle ums Leben: Colonel Astor, Benjamin Guggenheim, Charles Hays, George Widener, John Thayer.«
»Wie gelangten Sie selbst in eines der Rettungsboote?«, fragte Mrs. Farland.
»Ich war fest entschlossen, auf dem Schiff bis zum Ende auszuharren, als ich einen heftigen Stoß verspürte und im nächsten Moment in einem Boot landete, das bereits zu Wasser gelassen wurde. Es war das 15. Rettungsboot. Ich konnte nicht zurück auf das Schiff, ich konnte mich nicht um meine drei Begleiter kümmern, also tat ich trotz der Schmerzen in meinem linken Knie, mit dem ich nach dem tiefen Sturz auf Holz aufgekommen war, was ich konnte. Ich ergriff eines der Ruder und begann, unterstützt von einigen Männern der Besatzung, mit dem Boot vom Schiff, das sich in beträchtlicher Schieflage befand, weg zu rudern, um nicht im Sog der sinkenden Titanic in die Tiefe gerissen zu werden. Die Bewegung gegen die schneidende Kälte der Nacht tat gut. Das Schiff sank weiter. Und ich lebte. 109 Frauen, 52 Kinder kamen im Meer ums Leben. Von den Männern ganz zu schweigen, von denen nur 338 überlebten.«