»Davon 192 Männer der Besatzung«, bemerkte Holmes trocken.
»Mehr als 68 Prozent der Menschen an Bord starben«, sagte Joseph Bruce Ismay. »Wir entfernten uns vom Schiff, von dem wir noch die Band spielen hörten. Und ringsum keine Lichter anderer Schiffe. Keine Rettung in Aussicht. Obwohl sich die Carpathia bereits auf Kurs befand. Ich will nicht daran denken, was mit den Menschen geschah, die im Schiff zurückblieben. Dann sahen wir in der Entfernung, wie sich das Heck der Titanic aus dem Wasser hob. Das Schiff drehte sich wie eine Schraube in das tiefschwarze Wasser, rötlich beleuchtet von den Lichtmaschinen, die noch immer arbeiteten. Menschen fielen ins Meer, mit und ohne Schwimmwesten. Einer der Schlote riss aus seiner Verankerung und stürzte ins Meer, wo Menschen um ihr Leben kämpften, und erschlug sie. Die Höllenfahrt der Titanic hatte begonnen.«
»Ich schlage vor, Sie machen eine Pause«, schlug Doktor Watson dem schweißnassen Joseph Bruce Ismay vor. »Es ist zu schrecklich, was Sie zu berichten wissen.«
»Ja, gönnen Sie sich etwas Ruhe«, sagte Mrs. Farland in versöhnlichem Ton. Sie streckte ihre rechte Hand aus und legte sie beruhigend auf die von Bruce Ismay. Dieser atmete tief durch und begann zu weinen.
Die Brüder Smith entfernten sich schweigend.
Als der Detektiv mit Joseph Bruce Ismay in die Kabine zurückkehrte, wartete erneut der Steward auf ihn. Er berichtete: »Sie hatten recht, Mr. Holmes. Die Kette ist dort, wo Sie sie vermuteten.«
»Gute Arbeit, Conolly«, bedankte sich Holmes.
Der Journalist Robert M. Conolly legte die Uniform eines Schiffsstewards ab. Er teilte sich einen Raum mit Bruce Ismay in Holmes' Kabine.
»Wie fühlen Sie sich heute Abend, Conolly?«, erkundigte sich der Detektiv.
»Ausgezeichnet. Die Kur, die mir Dr. Watson verschrieben hat, greift. Die Blutungen haben aufgehört. Es geht voran.«
»Das freut mich zu hören. Watson wird noch vorbeikommen und Sie untersuchen. Aber nun zur Planung des morgigen Tages. Die Katastrophe der Titanic begann kurz vor Mitternacht des 14. Aprils. Wir werden eine Gedenkzeremonie abhalten, an den Rettungsbooten, um Mitternacht. Mit Bordmusik und Geistlichem, und alle entscheidenden Personen dazu einladen. Es wird, so wie vor drei Jahren, der Augenblick der Wahrheit sein. Ich gebe eines zu bedenken, Mr. Conolly: Es gibt Menschen, die diesen Augenblick der Wahrheit hinter sich haben, die wissen, wie sie sich in einer dermaßen entscheidenden Situation verhalten, wofür sie sich entscheiden. Mr. Ismay weiß es. Er hat in die Tiefen seines eigenen Wesens und in das vieler anderer Menschen geblickt. Im Gegensatz zu Ihnen. Und ich denke mir, dieses große Ereignis lässt sich symbolisch wiederholen.«
»Es bedeutet eine große seelische Belastung«, wandte Mr. Ismay ein. »Viele werden fernbleiben.«
»Das ist möglich. Muss aber nicht sein. Auf jeden Fall gibt uns das Verhalten entscheidender Personen an Bord dieses Schiffes wichtige Hinweise.«
»Sie wissen, was sich hinter der Katastrophe der Titanic verbirgt?«, fragte Conolly.
»Ich ahne was und wer dahintersteckt.«
»Könnten Sie uns einen Hinweis geben? Damit wir nicht völlig überrascht werden.«
»Ich habe Sie beide, meine Herren, in Sicherheit gebracht, und wache abwechselnd mit meinem Freund Watson über Ihr Leben. Das sollte genügen«, gab sich der Detektiv verschlossen. »Ich kann momentan nur so viel verraten: Zwischen dem Bräutigam, zwischen Graham Hornby und der Malerin bestand eine interessante Verbindung.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Holmes«, gab sich Watson ratlos.
»Erklären Sie es dem Doktor, Mr. Conolly«, bat der Detektiv.
»Nun. Ich hatte den Auftrag von Mr. Holmes, nach meinem Hinscheiden in der Uniform eines Stewards verschiedene Beobachtungsaufträge zu übernehmen. Eine davon bezog sich auf die Kabine von Mrs. Oldman-Smythe. Gott hab' sie selig, die alte Fregatte! Dabei sah ich zu meiner großen Überraschung, dass der Bräutigam auf Hochzeitsreise doch sehr geraume Zeit mit der Malerin verbrachte.«
»Des Nachts«, ergänzte Holmes. »Von Bedeutung für die Klärung ihres Verschwindens ist eine Aussage von Mrs. Oldman-Smythe selbst, die sie anlässlich der Eröffnung ihrer Vernissage machte. Sie meinte sinngemäß, dass der Käufer ihrer Gemälde nicht nur die Bilder, sondern auch ihr spezielles Wohlwollen erwerbe. Das weist darauf hin, dass sie etwas wusste, was andere geheim halten wollten. Vier der Bilder waren schon vor dem Beginn der Ausstellung verkauft worden. Aber nun schlage ich vor, dass wir uns vor dem morgigen Tag ein wenig Ruhe gönnen. Es wird kein leichter Tag werden.«
»Was haben Sie vor, Mr. Holmes?«, erkundigte sich der Journalist interessiert.
»Ich werde mit Ihnen, meine Herren, den Gedenkabend organisieren und am Vormittag …«
»Was, Holmes?«, fragte Watson begierig.
»Am Vormittag werde ich mich auf die Suche nach der Kette von Mrs. Oldman-Smythe begeben.«
»Sie wissen …«
»Eine sehr junge Dame und Mr. Conolly in seiner Maske als Steward konnten mir entscheidende Hinweise geben.«
*
»Der Detektiv macht Probleme, Sir. Exakt wie Sie es vorausgesehen haben.«
Der Mann hatte Haltung angenommen, als er mit Colonel David King sprach, obwohl das gar nicht so leicht war bei dem heftiger gewordenen Seegang, der die Olympic beben und schwanken ließ.
»Ignorieren Sie ihn einfach, konzentrieren Sie sich einzig und allein auf Ihren Auftrag, Private Samma. Sie machen das vorzüglich. Sie beobachten ihn, berichten mir, und Sie begrenzen die Gefahr, die von ihm ausgeht, indem Sie ihn isolieren. Das heißt …«
»Ich weiß, Sir, indem ich die Ausbreitung der Krankheit, die von ihm ausgeht, verhindere, Sir.«
»Mit tiefen Schnitten ins kranke Fleisch, wenn möglich.«
»Aber wäre es, mit aller Hochachtung, Sir, nicht einfacher, die Wurzel des Übels zu packen und …«
»Noch nicht, Private Samma. Der Zeitpunkt wird kommen. Er ist der Kopf unserer Gegner, der Ordnung bringt ins Chaos ihrer Pläne und Wünsche, und das erleichtert unser Vorgehen gegen sie«, entschied der Colonel.
Colonel David King litt unter berstenden Kopfschmerzen, die noch immer, dreizehn Jahre danach, auf die Kriegsverletzung in Südafrika zurückgingen. Es gab Stunden, in denen er nicht fähig war, klar zu denken, dann wieder strömte der Geist in ihn, erfüllte ihn mit Zuversicht, zeigte ihm klar den Weg der Veränderung. Das Land würde sich verwandeln und mit ihm die Welt. Es gab kein Zögern, kein Zaudern. Um zum Ziel zu gelangen, mussten Opfer gebracht werden. Auch wenn die Umstände schwierig waren. Die blühende Jugend konnte das Land gestalten. Er hatte die richtigen Männer ausgesucht.
David King betrachtete den blühenden Kirschzweig in der Vase, den einer seiner Bediensteten von einem tatsächlich blühenden Baum aus dem geschützten Teil des Schlossgartens hereingebracht hatte.
Es ist ein Ros entsprungen,
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen,
Aus Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht,
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.
Es gab Augenblicke in seinem Leben, in denen David King an seiner auserwählten Abstammung zweifelte. Aus Jesse kam die Art. Er stammte, wie ihm sein Vater anvertraut hatte, von König David ab, dessen Blutlinie über König Salomon, Josef und Jesus bis zu ihm heraufführte.
Der Vater war überzeugt von dieser Verwandtschaft, symbolisiert durch den blühenden Kirschzweig in kalter Jahreszeit. Die Mutter sprach von einem Sinnbild, das man nicht zu wörtlich nehmen durfte, letztlich seien alle Menschen miteinander verwandt.