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Tiefe Zufriedenheit kam über den Detektiv. Er fühlte sich stark und tatkräftig wie in seinen besten Jahren.

IRENE. IRENE ADLER.

Holmes erinnerte sich an die geheimnisvoll-tiefe Stimme der amerikanischen Opernsängerin Irene Adler, der Frau seiner detektivischen Karriere, die ihn überlistet hatte, deren Foto er in seinem Schreibtisch im Fairmount Hotel aufbewahrte, als Erinnerung an einen Fall, den Watson Ein Skandal in Böhmen genannt hatte.

IRENE ADLER. Ihr Gesicht, ihr Haar, ihr Körper waren Holmes so gegenwärtig, als ob sie im Zimmer stünde. Sie war an Bord der Olympic. Irene Adler war an Bord des Schiffes. Holmes spürte das. Aber wer war sie? Faszinierend und klug wie in jungen Jahren, die Stimme eventuell noch dunkler als damals. Mrs. Oldman-Smythe?

NEIN. Keine Jahrmarktsfigur, die sich überlisten, bestehlen und töten ließ.

Oder war das nur Show? Lebte sie noch?

Natürlich lebte Irene noch. Aber nicht als Mrs. Oldman-Smythe.

Irene Adler war ihm wieder einen Schritt voraus. Sie konnte in seinem Gehirn lesen wie in einem offenen Buch. Offene Bücher. Sie war in eigener Sache an Bord der Olympic. Als Ermittlerin. In wessen Auftrag?

Er hatte eine zweite Chance. Und er würde aus dem Zweikampf mit IRENE ADLER nicht wieder als Verlierer hervorgehen. Dieses Mal musste er gewinnen! Dieses Mal!

Holmes wollte sich eine zweite Spritze mit einer geringeren Dosis setzen. Aber noch bevor die Nadel in die Vene drang, sah er das Gesicht jener Frau vor sich, die Irene Adler war. Sie war noch immer schön, obwohl sie sich getarnt hatte.

Holmes ließ die Spritze sinken. Er würde sich ausruhen und sie aufsuchen, sobald er dazu fähig war. Er legte sich auf die Couch in Watsons Kabine und schlief bis Mittag.

Holmes verschlang den Lunch mit besonderem Heißhunger, immer wieder misstrauisch beobachtet von Dr. Watson.

»Sie erinnern sich an Miss Adler?«, fragte der Detektiv schließlich seinen Biographen.

»Ach ja. Jetzt kommt wieder diese alte Geschichte hoch. Ich weiß nicht, ob es besonders empfehlenswert ist, während der Arbeit an einem Fall zu einem Mittel zu greifen, das nachweislich …«

»Hinter welcher Dame an Bord der Olympic«, setzte Holmes ungerührt fort, »würden Sie Irene Adler vermuten?«

»Ach, kommen Sie, Holmes. Welch ein Unsinn! Irene Adler ist tot. Sie haben es selbst gesagt.«

»Nie. Ich sprach, wenn ich sie erwähnte, von der vormaligen Irene Adler. Und damit meinte ich nicht ihren Tod, sondern eine Änderung ihres Namens.«

»Sie reden wirr, Holmes. Ich denke, wir beenden das Gespräch, bis es Ihnen wieder besser geht.«

»Sagte Adam zu seinem Schöpfer, der ihn des Paradieses verwies.«

»Das ist doch unter Ihrem Niveau, Holmes!«

»Begleiten Sie mich auf diesem gemeinsamen gedanklichen Spaziergang, der weit unter unser gewohntes Niveau führt. Also! Wer auf diesem Schiff könnte Irene Adler sein? Denken Sie dabei an eine außergewöhnliche Frau, die so außergewöhnlich ist, dass sie ihre Außergewöhnlichkeit geschickt verbirgt.«

»Die beiden Brüder Smith, vermutlich. Sie hat sich …«

»Wer hat sich nun mit der weißen Göttin eingelassen? Sie oder ich?«

»Nun, im Ernst gesprochen, fällt mir da eine einzige Frau ein.«

»Und genau zu dieser begebe ich mich jetzt, Doktor. Wie sehe ich aus? Würdig genug für diesen wichtigen Augenblick in meinem Leben?«

»Ich denke schon.«

»Dann ist es gut.«

»Soll ich Sie begleiten?«

Holmes lehnte dankend ab und begab sich in die Schiffsbibliothek, wo er sich bei Miss Ronstead erkundigte, in welchem Schrank sie die gesammelten Werke von Doktor Watson aufbewahrte.

»Wenn Sie mir bitte folgen, Mr. Holmes. In welche der Erzählungen wollen Sie Einsicht nehmen?«

»In den Skandal in Böhmen. Mir sind einige Details entfallen. Es ist schon lange her, seitdem ich daran arbeitete.«

»Einen Moment bitte. Wenn Sie inzwischen Platz nehmen wollen«, sagte Miss Ronstead, um wenige Augenblicke später mit dem Band Die Abenteuer des Sherlock Holmes wiederzukehren.

»So weit ich mich erinnere«, sagte sie, »ist es die erste Erzählung darin.«

»Sie kennen das Buch?«

»Ich kenne alle Geschichten von Doktor Watson. Und Ihnen natürlich.«

Holmes vertiefte sich in den Text.

Für Sherlock Holmes ist sie die Frau geblieben. Er hat sie, wenn er von ihr sprach, selten anders genannt. In seinen Augen ist sie die bedeutendste und wichtigste Vertreterin ihres Geschlechts. Nicht dass er Irene Adler liebte. Sein kalter, präziser, jedoch bemerkenswert ausgeglichener Geist verabscheute alle Gefühle, und das der Liebe vornehmlich. Er war, vermute ich, der perfekteste Denk- und Beobachtungsapparat, den die Welt je gesehen hatte. Als Liebender jedoch wäre er fehl am Platz gewesen. Er machte sich stets in abfälliger Weise lustig über die zarteren Gefühle, die er jedoch gern beobachtete, weil sie auf die Motive von Menschen und ihren Handlungen schließen ließen. Für ihn selbst kamen solche Verirrungen nicht in Frage. Sie hätten sein Denken in Unordnung gebracht. Und doch gab es für ihn eine einzige Frau und diese Frau von mehr als dubiosem Ruf war die vormalige Irene Adler.

Kein Zweifel, dachte Holmes, Watson hatte sich verliebt in die Sängerin und wollte das auf keinen Fall zugeben. Der treue Freund, der loyale Biograph, der Holmes in seinen Werken immer von der allerbesten Seite zeigte, schilderte genüsslich das Scheitern des Detektivs. Er porträtierte Holmes als gefühllose Detektivmaschine, die einer faszinierenden Frau unterlag.

Die Bewunderung des Autors galt in diesem einen Fall nicht dem Detektiv, sondern ausschließlich dieser Frau. IRENE ADLER.

Sie spielte mit den Männern, allen voran mit dem König von Böhmen, einem aufgeblasenen Adeligen mit sehr beschränkten geistigen und moralischen Eigenschaften. Aber sie war keine Erpresserin. Sie verlangte vom König kein Geld für das Foto, das ihn gemeinsam mit ihr zeigte, in einer nicht unverfänglichen Pose. Irene Adler spielte eine Weile mit ihm wie die Katze mit der Maus, um ihm letztendlich ein anderes Bild zu überlassen, das sie allein zeigte. Mit dem Versprechen, das ursprüngliche Foto für immer in sicherer Verwahrung zu halten und ihm damit nicht zu schaden.

Und sie spielte auch, der Darstellung von Watson zufolge, mit Holmes, der sie vergeblich mit einem Trick überführen und zur Herausgabe des Bildes bewegen wollte.

Am Ende dieser Geschichte besiegte Irene Adler den großen Detektiv.

Bevor Holmes das Buch schloss, las er noch einmal das Ende der Erzählung, in dem Watson den Abschied von Irene Adler beschrieben hatte.

Eine ältere Frau stand auf den Stufen zum Tor von Briony Lodge. Sie beobachtete unsere Ankunft mit boshaften Blicken.

»Mr. Holmes, wenn ich mich nicht irre?«, sagte sie.

»So ist es«, bestätigte mein Begleiter in fragendem Ton.

»Meine Herrin kündigte mir Ihr Kommen an. Sie nahm diesen Morgen einen Zug zum Kontinent.«

»Was!« Holmes' Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Sie wollen doch nicht sagen, dass sie England verlassen hat!«

Obwohl der Detektiv diese Stelle aus Watsons Erzählung mehr als zur Genüge kannte, flammte der alte Ärger darüber erneut in ihm auf.

Das passte alles nicht zusammen! Hatte weder Hand noch Fuß! Am Anfang wurde er von Watson als gefühlloser Apparat beschrieben, nun erbleichte er vor einem Dienstmädchen.