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Miss Ronstead lächelte. »Ein Berufsgeheimnis, zum großen Teil. Ich vermute, wir sind hinter demselben Rätsel her. Ich möchte für mich und meinen Auftraggeber herausfinden, ob die Titanic mit Absicht versenkt wurde. Und wenn ja, mit welcher Absicht.«

»Und J. P. Morgan jr. zahlt so schlecht, dass Sie sich als Schiffsbibliothekarin verdingen müssen, Miss Ronstead?«

»Ich wüsste nicht, was J. P. Morgan mit meinem Aufenthalt an Bord dieses Schiffes zu tun hätte. Ein netter Versuch, Mr. Holmes. Aber nicht mehr als das. Zu Ihrer Aussage bezüglich meiner finanziellen Ressourcen: Meine Tätigkeit als Bibliothekarin hat einige Vorteile, unter anderem jenen, dass die Bücherei nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat, ganz abgesehen von der herrlichen Ruhe, die hier geherrscht hat, bevor Sie auftauchten.«

»Können Sie sich dennoch vorstellen, mich auf einen Drink zu begleiten?«

»In den Rauchsalon. Ich sterbe vor Gier nach einer Zigarette«, sagte Irene Adler und schloss sich dem Detektiv an.

»Was planen Sie Besonderes, um den Fall zu lösen, Mr. Holmes?«, fragte die Bibliothekarin und blies den Rauch ihrer Belair in die Luft.

»Ich entgegne Ihrer Frage mit einem Zitat aus Ihrem eigenen Mund: Das ist mein Berufsgeheimnis. Ich lade Sie jedoch zu einer Gedenkveranstaltung an Deck der Olympic ein. Heute gegen Mitternacht. Zu jener Zeit, zu der vor drei Jahren das Unglück geschah.«

»Bei den Rettungsbooten, unter freiem Himmel?«

»Bei hoffentlich trockenem Wetter.«

»Ich werde Ihrer Einladung folgen. Ich denke, das ist eine gute Idee.«

Nach einigen weiteren Drinks erkundigte sich Holmes bei Irene Adler, wie ihr weiteres Leben seit ihrem einzigen und letzten Treffen im Jahr 1888 verlaufen war.

»Ich verbrachte einige ruhige Jahre in Amerika mit meinem Mann und den Söhnen. Meine Karriere als Sängerin gab ich auf. Als Nero und Michael alt genug waren, auf eigenen Beinen zu stehen, begann ich in New York als Private Eye zu arbeiten.«

»Eine ungewöhnliche Tätigkeit für eine Frau«, bemerkte Holmes.

»Beeinflusst durch Dr. Watsons Bücher«, sagte Irene Adler. »Ich dachte mir …«

»Was dieser britische Detektiv zuwege bringt, kann eine Amerikanerin noch lange.«

»Nicht genau meine Worte, Mr. Holmes, aber sinngemäß haben Sie recht. Wie immer. Und wie läuft es bei Ihnen?«

»Ich habe meine Ruhe gefunden, im Süden Englands, am Meer.«

»Und dennoch befinden Sie sich an Bord dieses Schiffes und ermitteln.«

»Wer allzu konsequent ist, ist bereits tot. Aber nun möchte ich Sie nicht mehr von Ihrer Tätigkeit abhalten, Mrs. …?

»Wolfe. Ich nenne mich Irene Wolfe, nach meinem zweiten Mann, mit dem ich noch immer verheiratet bin. Und meine Kanzlei nennt sich I. Wolfe, um mögliche Kunden nicht zu früh davon abzuschrecken, zu mir zu kommen.«

»Sie meinen durch einen weiblichen Vornamen?«

»Exakt. Auch wirkungsvollste Drogen sind nicht in der Lage, Ihr klares Denken auszuschalten. Bevor Sie mich fragen, woher ich weiß, dass Sie etwas genommen haben: Ich sehe das an den erweiterten Pupillen Ihrer noch immer sehr reizvollen Augen.«

»Ich danke für das Kompliment, falls es eines ist.«

»Was haben Sie mit der Kette der Ermordeten vor?«, fragte die Detektivin unvermittelt.

»Das ist eine interessante Frage.«

»Die eine ebenso interessante Antwort verdient.«

»Neuerlich ein Berufsgeheimnis«, bedauerte Sherlock Holmes.

DIES IRAE

Nach dem Abendessen lud Holmes die Damen und Herren an seinem und am Nachbartisch zu der Gedenkzeremonie um viertel vor zwölf ein.

»Auf dem Bootsdeck, bei den Rettungsbooten. Um die Feier würdig zu gestalten, ersuche ich jemanden von Ihnen, mich bei der Vorbereitung zu unterstützen.«

»Das mache ich«, meldete sich Linda Hornby, die vernachlässigte Braut Graham Hornbys.

Bevor Sherlock Holmes mit der jungen Frau, mit Watson und Bruce Ismay den Speisesaal verließ, wurde er von den Mädchen vom Nachbartisch bestürmt.

Christine Reynolds sprach für sich und ihre stumme Freundin. »Wir wollen unbedingt an der Gedenkfeier teilnehmen, Mr. Holmes. Vielleicht können Sie mit unseren Eltern reden. Die wollen uns zwingen, in der Kabine zu bleiben.«

Zu Alice und Christine sagte Holmes: »Ich tue, was ich kann.« Dann wandte er sich an Miss Reynolds und die Harrisons: »Es wäre mir durchaus recht, wenn die beiden jungen Damen anwesend wären.«

»Wir schlafen vorher und nachher. Ganz fest und tief und lang«, versprach Christine.

Holmes, Watson, der Journalist Conolly, Joseph Bruce Ismay und Linda Hornby beratschlagten, wie das Gedenken um Mitternacht gestaltet werden sollte.

»Sie sprachen gestern von einem Augenblick der Wahrheit, Mr. Holmes«, wandte sich Mr. Ismay an den Detektiv. »Ich muss gestehen, dass ich große Angst davor habe.«

»Sie wurden schon vor drei Jahren mit dieser Wahrheit konfrontiert«, beruhigte ihn der Detektiv. »Ich denke mir, dass manch andere, manch anderer, viel mehr zu befürchten hat. Darum wird es wichtig sein, die Feier still und würdevoll zu begehen.«

»Ich schlage vor, auch einen Geistlichen beizuziehen«, meinte Mrs. Hornby. »Er soll mit uns beten.«

Holmes war einverstanden. »Auch ich habe daran gedacht. Kapitän Hayes wird uns einen geeigneten Mann vorschlagen.«

Bis ins Detail war der Ablauf der Gedenkstunde um Mitternacht geplant, als sich um halb zwölf der Kapitän, die beiden Brüder Smith, Graham Hornby, John Hatter, die Harrisons mit ihrer Tochter Alice, Miss Reynolds mit Christine, Mrs. Hilda Farland, Joseph Bruce Ismay, Sherlock Holmes und Dr. Watson in Begleitung von Father Riley, einem anglikanischen Priester, sowie vier Mann der Bordkapelle auf dem Bootsdeck aufstellten. Auch die Schiffsbibliothekarin war erschienen. Robert Conolly, offiziell als verstorben geltend, war auf Ersuchen von Sherlock Holmes in der Suite des Detektivs geblieben.

Die Band stimmte Dies Irae in der Vertonung von Guiseppe Verdi an. Father Riley und die Musiker sangen den Text in lateinischer Sprache.

Dies irae, dies illa, Solvet saeclum in favilla, Teste David cum Sibylla. Quantus tremor est futurus, Quando judex est venturus, Cuncta stricte discussurus!
Tag der Rache, Tag der Sünden, Wird das Weltall sich entzünden, wie und künden. Welch ein Graus wird sein und Zagen, Wenn der Richter kommt, mit Fragen Streng zu prüfen alle Klagen!

Das Meer war völlig ruhig. Wie vor drei Jahren. Alle, die das Unglück überlebt hatten, berichteten von der atemlosen Stille auf der Titanic und in ihrer Umgebung, der Ruhe und der Kälte des Todes. Im Gegensatz zum 14. April 1912 tauchte an diesem Abend die fast volle Mondkugel das Schiff und seine Umgebung in helles, kaltes Licht, das sich weiß auf der sonst dunklen Wasserfläche spiegelte. Die Menschen waren in Wintermäntel gehüllt und trugen Kopfbedeckung und Handschuhe.

Als die Musik verklungen war, begrüßte Sherlock Holmes die fünfzehn anwesenden Damen, Herren und Kinder. »Vor drei Jahren spielten sich an dieser Stelle des Schwesterschiffes der Olympic dramatische Szenen ab, an denen einige von Ihnen Anteil hatten. Ein Augenblick der Wahrheit, den wir in der Erinnerung wachrufen wollen. Wer von Ihnen das Wort ergreifen will, kann dies jederzeit tun.« Mit der Feststellung »Die Wahrheit geht manchmal unter, aber sie stirbt nicht«, beendete der Detektiv seine kurze Ansprache.