Minutenlang wagte es niemand, als Erster die Ruhe zu brechen, bis sich Mrs. Hilda Farland zu Wort meldete. »Ich gedenke meines Mannes und meines Enkelsohnes Peter. Ich vermisse beide so sehr, dass es körperlich schmerzt. Immer wieder hoffe ich, dass es entweder ein Fortleben der Seele in einer jenseitigen Welt gibt, oder dass Menschen, deren Leben zu kurz war, eine zweite Chance bekommen, dass sie noch einmal geboren werden. Ich bete dafür, dass dies, besonders für Peter, der Fall ist. Ein schöner, gescheiter, mutiger Junge, der durch das Unglück am Weiterleben gehindert wurde.«
Während Mrs. Farland sprach, beobachtete Holmes die beiden Mädchen Alice und Christine. Er sah, dass Alice aufgeregt auf ihre Freundin einredete.
Leise bat er Dr. Watson, ihm zu folgen, und bewegte sich in Richtung Mr. und Mrs. Harrison. Von hinten flüsterte er Mrs. Harrison ins Ohr: »Täuschen Sie eine Ohnmacht vor. Sofort! Watson und ich werden Sie mit den Mädchen in Ihre Kabine bringen. Es ist lebensnotwendig.«
Gekonnt ging Mrs. Harrison in die Knie und fiel der Länge nach auf die Schiffsplanken.
»Machen Sie Platz, ich bin Arzt!«, rief Watson und kümmerte sich um die Frau.
Holmes nahm sich inzwischen der beiden Mädchen an und verließ mit ihnen und mit Mr. Harrison das Bootsdeck.
Mrs. Harrison wurde auf eine Tragbahre gelegt und von zwei Stewards abtransportiert.
Die Schiffsband spielte beruhigende Weisen.
In der Kabine der Harrisons erklärte der Detektiv, warum er die Gedenkfeier in dieser Form unterbrochen hatte.
»Ihre Tochter, Mrs. Harrison, kann wieder reden. Ich sah, dass sie sich an ihre Freundin Christine wandte, um ihr etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Stimmt das, Christine?«
Christine nickte. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Und weil ich vermute, dass das, was Alice zu sagen hat, von weitreichender Bedeutung ist und ihr eigenes Leben und das ihrer Freundin gefährden könnte, bat ich Mrs. Harrison, uns durch einen vorgetäuschten Ohnmachtsanfall den Abgang zu ermöglichen.«
Dann wandte sich Holmes an Alice: »Dir fiel etwas während der Feier auf, das dich so bewegte, dass du es Christine mitteilen musstest. Und du hast bemerkt, dass dies tatsächlich möglich war. Du konntest wieder sprechen.«
Das Mädchen nickte mehrmals, dann sagte es mit heiserer, ungeübter Stimme: »Ich habe den Mann erkannt, der Schuld am Tod von Peter ist. Er schleuderte Peter, der schon im Rettungsboot war, zurück auf die Titanic.«
»Du bist dir sicher?«
»Ja, ich bin mir sicher. Ich spürte, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte, wenn ich ihn im Speisesaal oder sonstwo traf. Er wich mir aus, er wich auch meinen Blicken aus. Aber jetzt, als Peters Großmutter sprach, erkannte ich ihn.«
Das Mädchen begann heftig zu weinen. Christine umarmte ihre Freundin und weinte mit ihr.
»Um nicht unnötig das Leben weiterer Menschen dadurch zu gefährden, dass sie am Wissen von Alice und Christine teilhaben, ersuche ich nun alle, außer den beiden Mädchen, die Kabine zu verlassen. Alice wird weiterhin die Stumme mimen. Niemand darf erfahren, dass sie wieder reden kann. Der Betreffende darf nicht ahnen, dass er entlarvt ist. Er wäre in seiner Angst eine tödliche Gefahr.«
»Und ich?«, fragte Dr. Watson.
»Auch Sie sind zu schonen. Sie sind ganz besonders wichtig«, antwortete Holmes.
»Das heißt …«
»Dass auch Sie den Raum verlassen.«
»Und um wen handelt es sich bei dem Mann?«, fragte Holmes, nachdem die Eltern die Kabine verlassen hatten.
Christine begann zögernd für ihre Freundin zu sprechen, die allmählich stockend selbst berichtete.
Am Ende des sehr aufschlussreichen Gesprächs bat Holmes die beiden Mädchen eindringlich: »Ich wiederhole: Alice darf bis zum Ende der Reise niemandem verraten, dass sie wieder sprechen kann. Über das, was sie herausgefunden hat, müsst ihr beide schweigen. Die Gefahr für euch wäre ansonsten viel zu groß. Ich verspreche euch, ich werde mich darum kümmern, dass die Person, die eurem Freund Peter das angetan hat, zur Verantwortung gezogen wird.«
DER SCHWARZE DIAMANT
Als ob nichts Wesentliches passiert sei, stießen Holmes und Watson wieder zu der kleinen Gruppe von Menschen auf dem Bootsdeck und nahmen weiter an der Gedenkveranstaltung teil. Die an der Reling Verbliebenen hatten ihre Statements fortgesetzt.
»… für mich unvorstellbar, einen Angehörigen zu verlieren. Ich spreche allen Betroffenen meine Anteilnahme aus«, sagte gerade Irene Adler. »Umso wesentlicher ist es, dass Mr. Holmes, wie er es schon vor Antritt der Reise über die Pall Mall Gazette verlauten ließ, tatsächlich alle Unklarheiten beseitigt und die Weltöffentlichkeit über die wahren Hintergründe informiert. Wer, wenn nicht er, wäre geeignet für eine wichtige Aufgabe wie diese.«
»Mir geht es wie meiner Vorrednerin«, sagte John Hatter, der Mitarbeiter von James Faber bei der Royal-Maritime-Versicherung. »Ich verneige mich demütig vor dem großen Geschehen vor drei Jahren, an dem ich selbst keinen Anteil hatte das mich jedoch von Berufs wegen einige Zeit beschäftigte. Die Royal Maritime war und ist in Zusammenarbeit mit vielen kleineren Instituten bestrebt, wenigstens die ärgsten finanziellen Probleme der Betroffenen zu lösen.«
»Klingt wie eine Werbebotschaft. Gefällt mir gar nicht«, zischte Watson.
Als sich sonst niemand mehr zu Wort meldete, schloss der Geistliche das Treffen mit dem Vaterunser, das er auf Latein betete. Manche der Anwesenden falteten dabei die Hände. Dr. Watson verschränkte seine Finger ineinander. Holmes senkte den Kopf. Er betete nicht. Die Musiker stimmten Lowell Masons Nearer My God to Thee an.
Ist mir auch ganz verhüllt
Mein Weg allhier:
Wird nun mein Wunsch erfüllt
Näher zu dir!
Schließt dann mein Pilgerlauf,
Schwing ich mich selig auf
Näher mein Gott zu Dir,
Näher zu Dir!
Als auch die Musiker den Weg in ihre Kabinen angetreten hatten, erkundigte sich Mr. Hatter bei Watson, wie es Mrs. Harrison gehe.
»Ein Schwächeanfall, nichts von Bedeutung«, antwortete dieser.
»Kein Wunder bei den Erinnerungen, die durch die Feier geweckt wurden.«
»Was ist los, Holmes? Was wissen Sie? Was planen Sie?«, fragte Dr. Watson gegen ein Uhr in der Suite des Detektivs, in der auch noch der Journalist Conolly und Bruce Ismay anwesend waren.
»Ich möchte nicht alles auf den Tisch legen. Das ist zu gefährlich im gegenwärtigen Stadium des Falles. Wenn jemand konkrete Fragen stellt, werde ich diese beantworten, so weit mir dies möglich ist. Ich sage aber eines zum heutigen Abend: Der Augenblick der Wahrheit brachte all das, was ich mir erwartet hatte. Es kam zu einer Läuterung, ohne dass ich wesentlich dazu beitrug. Sicher, es waren kleinere Eingriffe nötig, um Beteiligte zu schützen. Ich denke, dass alles seinen vorgegebenen Lauf nehmen wird.«
Auch Joseph Bruce Ismay wollte wissen, wie es Mrs. Harrison gehe und welche Bewandtnis es mit dem Collier von Mrs. Oldman-Smythe habe, das Holmes dem Meer übergeben hatte, ohne zu erwähnen, wo er es gefunden und wer es gestohlen hatte.
»Ich warf tatsächlich einen Gegenstand aus dem Besitz von Mrs. Oldman-Smythe über die Reling. Ich behauptete jedoch nie, dass es sich dabei um das Collier gehandelt hat. Die Kette befindet sich unversehrt in der Kabine eines Passagiers«, erklärte Sherlock Holmes. »Conolly fand sie, ich sicherte sie. Und nun ist sie an ihrem Ziel angelangt.«