Der Journalist protestierte: »Meinen Sie nicht auch, Mr. Holmes, dass ich als Finder dieses Schmuckstücks ein Recht habe zu wissen, wo es nun liegt?«
»Sie werden es erfahren. Noch ist die Zeit dafür nicht reif«, meinte Holmes und beobachtete, wie sich sowohl Watson als auch Conolly Notizen machten. »Sie führen Buch, Mr. Conolly, Doktor Watson?«
Beide Männer nickten.
»Das ist gut so. Es wäre außerordentlich reizvoll, morgen Abend in der Schiffsbibliothek für einen kleinen, interessierten Kreis eine Abschiedslesung aus Ihren Texten zu geben.«
»Da müssen Sie uns aber vorher in das Ergebnis Ihrer Ermittlungen einweihen, Mr. Holmes«, sagte Conolly. »Ich bin gegenüber Ihrem Biographen schwer benachteiligt, da ich nicht einmal die Kabine verlassen darf.«
»So hat jeder an seinem Geschick zu tragen«, stellte Holmes trocken fest. »Dafür leben Sie noch. Ist ja auch etwas. Nein, Sie schreiben nur das, was Sie selbst wissen, meine Herren. Der Gegner soll im Unklaren bleiben.«
»Können wir schreiben, dass das Mädchen durch einen Schock wieder sprechen kann?«, fragte Conolly.
»Sie haben geplaudert, Watson, und das Ihrem schriftstellerischen Konkurrenten gegenüber. Wie unklug, wie überaus unklug. Zu Ihrer Frage, Mr. Conolly: Ich lasse Sie das selbst entscheiden. Ist Ihnen eine journalistische Sensation wichtiger als das Wohlergehen eines kleinen Mädchens? Ist Ihnen ein momentaner Triumph wichtiger als die Gesamtlösung?«
»Aber … Ich habe vor dieser Reise groß berichtet. Und nun? Es scheint, als ob am Ende der Reise keine der wesentlichen Fragen beantwortet ist. Haben Mr. Ismay und sein amerikanischer Partner die Versicherung betrogen und die Titanic versenkt? Wenn ja, wie? Wenn nein, wer oder was steckt wirklich dahinter? Wer wollte mich vergiften? Wer hat meine Kollegen Evans und Robertson auf dem Gewissen?
Wer tötete Mrs. Oldman-Smythe und warum musste sie sterben? Wer stahl ihr Collier?«
»Sie haben wie ich dieselben Chancen, all diese Punkte zu klären. Ich lasse Ihnen völlig freie Hand. Sie können auch die Kabine verlassen, wenn Sie sich dementsprechend verkleiden. Es könnte jemand vor Schreck tot umfallen, Ihr Gespenst zu sehen. Und nach dieser Reise können Sie veröffentlichen, was immer Sie wollen. Wenn Sie der Meinung sind, dass ich versagt habe und nicht fähig war, den Fall zu lösen, dürfen Sie mich öffentlich bloßstellen. Ich werde mich nicht dagegen wehren.«
Holmes hatte sich in Rage geredet. Sein Gesicht war leicht gerötet.
»Aber … Aber warum erzählen Sie uns nicht, was Sie wissen? Wir könnten Sie weiterhin in jeder Weise unterstützen.«
»Der Grund dafür ist einfach. Der Fall darf noch nicht gelöst werden, weil sonst die Verantwortlichen untertauchen oder versuchen werden, uns zu vernichten. Der Fall wird am 30. Dezember dieses Jahres gelöst. Ich lade Sie, meine Herren, ein, mit mir ein Essen, ein Mittagsmahl, in unserer Wohnung in der Baker Street einzunehmen. Um Punkt 12 Uhr. Am nächsten Tag können Sie darüber in der Zeitung schreiben, Mr. Conolly. Aber damit Sie sehen, dass ich nicht alles vor Ihnen verberge, zwei Hinweise. Erstens: Warum wurde Mrs. Oldman-Smythe ermordet? Ich erinnere daran, was ich schon einmal feststellte. Die Frau wusste viel über die Hintergründe unseres Falls. Sie war mit den Verantwortlichen persönlich bekannt. Ihr ging es nicht darum, weitere Untaten zu verhindern. Mrs. Oldman-Smythe wollte persönlichen Nutzen aus ihrem Wissen ziehen.«
»Sie deuten damit an, dass sie die Täter erpresste«, stellte Watson fest.
»So ist es. Die unglaublich wertvolle Kette war ein solches Produkt ihrer törichten Drohungen. Auch der Verkauf von vier ihrer Bilder, noch vor der Vernissage. Ich erinnere an ihre Andeutung bei der Ansprache zur Eröffnung der Gemäldeausstellung. Sie wollte noch mehr Schweigegeld. Das war ihr Todesurteil.«
»Warum der 30. Dezember? Ist dieser Tag von besonderer Bedeutung?«, fragte Watson.
»Mehr erfahren Sie nicht von mir, meine Herren. Bemühen Sie sich selbst. Und sind Sie vernünftig in dem, was Sie schriftlich festhalten.«
»Ich werde beim Schreiben Vernunft beweisen. Nicht aber beim Ermitteln. Davon hält mich nun keiner mehr ab«, sagte Robert M. Conolly und eilte in sein Zimmer.
Einige Minuten später verließ er, als Steward verkleidet, die Kabine.
Conolly ahnte, welche Bedeutung der 30. Dezember, beziehungsweise der Tag davor, hatte. Er hatte eine Notiz dazu in den Unterlagen von Morgan Robertson gefunden. Und der Journalist hatte eine Vermutung, wer auf der Olympic in Zusammenhang mit den so genannten Davidskriegern stehen konnte, jener teuflischen Gruppe, die hinter dem Fluch der Titanic steckte.
Es war nicht schwer für ihn, die Tür zu der Kabine des von ihm Verdächtigten zu öffnen. Und tatsächlich, die zwei Räume, die von dem Mann bewohnt wurden, enthielten das, was er vermutet hatte. Er würde seinen eigenen Bericht schreiben und ihn per Funk an die Redaktion übermitteln lassen, so dass die Gazette noch lange vor Holmes und ihrer Ankunft in New York exklusiv darüber berichten würde.
Die einen Spalt breit offen stehende Tür war ins Schloss gefallen. Conolly drehte sich um und sah in die Augen der Person, die er verdächtigte. Bevor er reagieren konnte, beendete eine Salve von Schüssen aus einer Colt-Browning M1895, die ihn mitten in die Stirn trafen, sein Denken und sein Leben.
»Was ist mit Conolly geschehen? Wo ist er?«, fragte Dr. Watson.
»Er wurde ermordet und man wird ihn des Nachts über Bord werfen«, sagte Holmes zu Watson.
»Und was gedenken Sie zu unternehmen?«, fragte der Besitzer der White Star Lines.
»Nichts. Jedes Eingreifen würde das Ziel meines Auftrags gefährden. Und das wollen wir doch nicht riskieren, Mr. Ismay.«
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Mr. Holmes, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass der Kapitän ebenso besonnen bleibt wie Sie.«
»Kapitän Hayes wird die New Yorker Polizei einschalten müssen, um das Verschwinden von Mrs. Oldman-Smythe und ihres Colliers sowie von Mr. Conolly zu klären. Die Cops werden das Collier finden, aber keine Spur der beiden Ermordeten und keinen Hinweis auf die Täter. Und es würde mich außerordentlich überraschen, wenn nicht ein weiterer Passagier zu Tode kommen würde, bevor wir New York erreichen.«
»Ich bin empört, Holmes, dass Sie so leichtfertig über den Tod eines Menschen hinweggehen, der uns doch nahe gestanden hat. Mir war Mr. Conolly sehr wichtig. Ich habe ihn sehr geschätzt«, sagte Dr. Watson in vorwurfsvollem Ton.
»Ich versuchte ihn zu schützen. Ich warnte ihn. Er meinte, das in den Wind schlagen zu können. Ich wiederhole nun auch für Sie, Watson, Mr. Ismay: Wir haben es mit keinem alltäglichen Fall und keinem alltäglichen Gegner zu tun. Vorsicht und Klugheit sind gefragt, wollen Sie nicht auch noch Ihr Leben riskieren.«
»Also, was hast du zu sagen? Ich höre«, sagte Linda Hornby zu ihrem um ein Jahr jüngeren Bräutigam.
»Ich bedaure, wie ich mich bisher dir gegenüber verhalten habe, und ich bitte dich, mir eine Chance zu geben. Eine letzte Chance.«
»Du hast mir auf dieser Schiffsreise die Augen geöffnet. Du hast nicht mich geheiratet, sondern unsere Firma. Ich bin ein lästiges Anhängsel bei diesem Geschäft. Und jede verrückte Alte, wie diese unmögliche Malerin, ist für dich interessanter, als ich es bin.«
»Ich entschuldige mich und bitte dich um einen Neuanfang.«
»Hast du etwas mit dem Verschwinden von Mrs. Oldman-Smythe zu tun, Graham?«, fragte ihn die junge Frau.
»Nein. Aber du vielleicht?«
»Ich auch nicht.«
»Gut. Das ist wichtig«, sagte der Einundzwanzigjährige. »Ich hatte nichts mit der Frau, im eigentlichen Sinn.«