Die Titanic war durchaus nicht das einzige Schiff, das zwischen Europa und den Vereinigten Staaten verkehrte. Dieser Eindruck, den ein laienhafter Leser aus den Zeitungsberichten, die dem Unglück folgten, gewinnen musste, war natürlich unrichtig. Was aber führte nun tatsächlich zu der fatalen Kollision mit einem ausgedehnten Eisfeld und der Zerstörung des angeblich unsinkbaren Schiffes? Warum gab es diesen Eisberg, der nicht vorhanden hätte sein dürfen?
»Ganz einfach«, meinte Sherlock Holmes und zündete seine Pfeife an. »Man hat ihn der Titanic in den Weg gestellt.«
»Das ist wohl nicht Ihr Ernst, Holmes«, wehrte Watson ab und leerte sein Glas Portwein.
»Denken Sie streng logisch, Doktor!«, insistierte der Detektiv. »Ein riesiges Eisfeld befindet sich dort, wo es nicht hingehört, wo seit Jahrzehnten keine Eisflächen vorkommen, und es versenkt das größte Schiff der Welt, dem kleinere Eisberge nichts anhaben können. Man muss sich also fragen, wie das riesige Eisfeld gerade dorthin gelangte.«
»Es hatte sich offenbar von einem noch größeren Massiv abgespalten und war nach Süden gedriftet.«
»So ist es, Doktor. Es freut mich, dass Sie so logisch denken. Neuerdings.«
Watson schenkte sich ein weiteres Glas Port nach und versuchte mit einem kräftigen Schluck den Ärger über Holmes' taktlose Bemerkung hinunterzuspülen.
»Sie können es nicht lassen«, sagte der Doktor.
»Sie wollen nicht gelobt werden, Watson? Das widerspricht allen meinen sonstigen Erfahrungen mit Ihrem Wesen. Aber auch ein Detektiv lernt nie aus.«
»Genug dieses Kleinkriegs, Holmes! Sagen Sie einfach und gerade heraus, was Sie vermuten!«
»Ich vermute nicht, ich weiß. Wie Sie selbst sagen, muss ein ausgedehntes Eisfeld nach Süden gedriftet sein. Und da diese Abspaltung im Monat April nicht auf eine Erwärmung des Atlantiks zurückgeführt werden kann, muss es sich um ein von Menschen ausgelöstes Phänomen handeln.«
»Unmöglich, wie sollte das funktionieren?«
»Denken Sie nach, in aller Ruhe.«
»Die einzige Möglichkeit wäre eine Sprengung. Aber das ist doch unmöglich.«
»Wieso?«
»Es müsste sich um gewaltige Sprengungen handeln, wie sie nur von Angehörigen einer Armee durchgeführt werden könnten.«
»Exakt. Wir sind am Ziel, Doktor. Die Titanic wurde von Menschen mit militärischem Hintergrund versenkt.«
»Sie deuten doch nicht etwa an, dass die Deutschen mit ihren U-Booten dahinterstecken?«
»Sehen Sie, Watson, Sie fragen nun logischerweise nach dem Motiv der Tat. Wer hatte Vorteile durch die Zerstörung der Titanic? Waren das die Deutschen? Wenn die deutsche Marine ihre Macht demonstrieren wollte, hätte sie sich zu dem Anschlag bekannt und versucht, durch Drohungen etwaige politische Ziele zu verfolgen. Nichts dergleichen geschah.«
»Vielleicht war der Tod so vieler Passagiere nicht beabsichtigt und man schwieg, als man das Ausmaß der tatsächlich eingetretenen Katastrophe erkannte«, wandte Doktor Watson ein.
»Ein sehr wichtiger Gedanke. Ja, ich glaube, man hatte wirklich nicht mit dem Tod so vieler Menschen gerechnet. Da war etwas schief gelaufen. Den Deutschen jedoch, gründlich wie sie nun einmal sind, wäre ein solcher Fehler nicht unterlaufen. Sie hätten die Schiffbrüchigen eingesammelt und die Geretteten der Weltöffentlichkeit präsentiert.«
»Worauf also wollen Sie hinaus, Holmes?«
»Hinter der Attacke auf die Titanic stand eine Gruppe mit militärischem Hintergrund, aber keine reguläre Armee. Eine wirkungsvolle, ihrem Anführer absolut ergebene Einheit.«
»Oder eine größere Truppe.«
»Aber …«
»Sie zweifeln zu recht daran, dass eine Sprengung genügt hätte, den Eisberg in Position zu bringen, nicht wahr, Watson. Die Männer hatten einen Schlepper zur Verfügung, der das Eis dorthin beförderte, wo die Titanic unterwegs sein würde. Ich sagte schon, dass es sich um Personen in nicht unwichtigen Positionen handelte.«
»Sie wissen also, was dahintersteckt, Holmes?«
Der Detektiv nickte bedeutungsvoll.
»Ich bedanke mich bei Sherlock Holmes und Doktor Watson für diesen hoch interessanten Abend«, sagte Irene Adler. »Die Herren haben sich großzügiger Weise bereit erklärt, Fragen zu beantworten. Fragen zum literarischen und faktischen Hintergrund der vorgetragenen Texte.«
»Wie ich sehe, machen Sie kaum Korrekturen an Ihren Texten. Sie sind also derartig geübt, dass Sie Ihre Sätze eins zu eins zu Papier bringen«, sagte eine Frau, die in der ersten Reihe saß und Ausblick auf das Manuskript hatte, das vor dem Doktor lag.
»Eine Ausnahme, gnädige Frau, ist dieser erst jüngst verfasste Text«, erklärte der Doktor das Manuskript, das ihm Holmes untergeschoben hatte. »Normalerweise plane ich meine Erzählungen bis ins kleinste Detail und schreibe und korrigiere so oft, bis die endgültige Form erreicht ist, die an den Verlag geht.«
»Eine Frage an Sie, Mr. Holmes. Entspricht der zuletzt gelesene Text Ihrem aktuellen Ermittlungsstand?«, fragte Bruce Ismay.
»Betrachten Sie den heutigen Abend als Auftritt eines Künstlers, eines Künstlers der Phantasie und der Worte, des Künstlers John H. Watson, dessen Wirkung auf das Lesepublikum daraus resultiert, dass er Märchen schreibt. Märchen für Erwachsene, voll Atmosphäre und Geist.«
»Sie vermuten doch nicht etwa Ihren alten Widersacher Professor Moriarty und einen gigantischen Plan der Weltverschwörung hinter dem Untergang der Titanic?«, fragte ein Mann aus dem dunklen Hintergrund der Bibliothek.
»Ein bestechender Gedanke. Ich danke Ihnen, Mr. Hatter, für diesen hoch interessanten Einwand. Doktor Watson wird ihn prüfen und gegebenenfalls übernehmen.«
Als sich sonst niemand zu Wort meldete, schloss die Bibliothekarin den Abend mit einer Frage an den Doktor. »Wie werden Sie das Buch nennen, das sich mit der Titanic-Katastrophe beschäftigt?«
»Fluch der Titanic, oder besser Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic, der gesteigerten Verkaufschancen wegen.«
»Sie haben den Gegner mit diesem Text so sehr gereizt, dass ich größte Bedenken habe«, sagte Doktor Watson zu seinem Freund auf dem Weg zu Holmes' Kabine. »Ich lasse nicht zu, dass Sie die Nacht ungeschützt mit diesem Ismay in einer Kabine verbringen. Er wird alles versuchen, Sie unschädlich zu machen, bevor Sie ihn endgültig entlarven.«
»Was planen Sie, zu meinem Schutz zu unternehmen?«
»Ich werde an Ihrer Seite wachen, mit meinem treuen Webley.«
»Ihrem Revolver. Eine wunderbare Idee, und welch selbstloser Einsatz! Darf ich so unverschämt sein, Ihr großzügiges Angebot tatsächlich anzunehmen?«
Watson nickte erleichtert. Er hatte mit Widerstand von Seiten des Detektivs gerechnet.
»Was sagen Sie übrigens zu meinem Text?«, erkundigte sich Holmes bei seinem Freund.
»Perfekt. Und ganz ohne Korrekturen, wie das Publikum feststellte. Ich frage mich …«
»Was fragen Sie sich, werter Freund?«
»Warum Sie Ihre Fälle nicht selbst aufzeichnen.«
»Eine interessante Frage, Watson.«
»Und die Antwort darauf?«
»Auch andere historische Persönlichkeiten verzichteten darauf, Ihre Biographien selbst zu schreiben.«