Holmes schüttelte den Kopf. »Wenn Sie sich der unangenehmen Aufgabe stellen, die Gesichter der Herren zu betrachten, werden Sie bemerken, dass einer von ihnen beträchtlich älter ist als die anderen. Bei dem älteren Mann mit dem Schnurrbart handelt es sich um Colonel King. Um Colonel David King, der sich selbst King David nannte, weil er meinte, ein Nachkomme des biblischen Königs David zu sein, dessen Stammbaum über Jesus Christus bis herauf in unsere Tage reichte. Beachten Sie das Glasfenster mit der Abbildung des Baumes Jesse, der die Blutlinie des Hauses David darstellt, beginnend bei Adam, über König David, König Salomon, über Josef, den Mann Marias, Jesus Christus selbst, bis herauf zu Colonel King. Der Colonel ist, oder besser gesagt, war der stellvertretende Verteidigungsminister unseres Landes. Wohl ein Grund, warum das Trompetensignal, mit dem Sie Watson und mich herbeiriefen, so gedämpft im Ton ausfiel. Nicht wahr, Brigadier?«
»Die drei Männer tragen eine hohe militärische Auszeichnung, das Victoria-Kreuz, das von der Queen für vorbildliche Tapferkeit vor dem Feind verliehen wird. Wir wussten, dass wir eine schwere Aufgabe zu erfüllen haben würden«, sagte Brigadier Hurst. »Es wäre mir lieber gewesen, wir hätten Colonel King in einem fairen Kampf besiegen und gefangen nehmen können und ihn nicht auf diese Weise aufgefunden. Eine feige, hinterhältige Methode, einen Soldaten zu töten.«
»Jeder wählt die Methode, die ihm liegt. Von einer moralischen Bewertung würde ich persönlich Abstand nehmen. Die Herren kannten keine Gnade beim Erreichen ihrer Ziele. Mit Kumpanen ihrer ehemaligen Kompanie sprengten sie das Eisfeld, das die Titanic vernichtete. Hunderte Menschen kamen dabei um. Ich kann nichts Heldenhaftes daran erkennen.«
»Aber warum? Was wollten sie damit erreichen?«, fragte Doktor Watson.
»Das lässt sich in wenigen Sätzen erklären«, sagte Holmes. »In Sätzen, die Sie, Watson, leider nie zu Papier bringen werden, weil davon nie etwas an die Öffentlichkeit dringen darf. Zu groß wäre der Schaden für die Armee unseres Landes, deren Ruf gerade in Kriegszeiten nicht geschwächt werden darf. Nun, bei dem dunkelhaarigen Gentleman, dem Krieger Jasobeam, handelt es sich um Mr. James R. Faber, den Direktor der Royal-Maritime-Versicherung, die die Titanic versichert hatte.«
»Was es unmöglich erscheinen lässt, dass er am Untergang des Schiffes beteiligt war«, wandte Dr. Watson ein. »Viel wahrscheinlicher wäre es, Mr. Ismay an seiner Stelle vorzufinden.«
»Für Sie Watson, weil Sie sich mit der Kraft eines Bulldogs in den armen Mann verbissen haben. Aber die Realität spricht, wie Sie sehen, eine andere Sprache. Nun, James R. Fabers Versicherung erlitt keinen Schaden durch die Versenkung der Titanic. Im Gegenteil. Die Royal Maritime war bei vielen kleineren Agenturen rückversichert, die durch den Schadensfall ruiniert wurden. Faber selbst machte durch das Unglück einen bescheidenen Gewinn, den er zu optimieren suchte, indem er Ismay und seinen amerikanischen Kollegen Pierpont Morgan durch gezielte Dossiers an die Presse in Misskredit brachte. Hätte man die Verantwortlichen der White Star Line tatsächlich des Versicherungsbetrugs überführt, wie Conolly, Evans und ihr amerikanischer Kollege Robertson in ihren Zeitungsbeiträgen andeuteten, wäre Faber in Geld geschwommen und hätte finanziell zu den großen Plänen seines Colonels David King beitragen können. Auf diese Weise dienten die Reporter und der Romanautor Morgan Robertson, ohne sich dessen bewusst zu sein, als Werkzeug für King und seine so genannten Krieger. Bis sie auf Fakten stießen, die für die Herren gefährlich wurden. Das war ihr Todesurteil.«
Holmes holte tief Luft und fuhr fort: »Die detaillierte Anleitung zum Untergang der Titanic stammte übrigens aus Robertsons Roman Hoffnungslos – oder das Wrack der Titan. Der blonde Herr mit dem für einen Krieger so unehrenhaft von hinten durchschossenen Kopf ist Edward Hornby, Chef der Northern Steamship Ltd., einem Konkurrenzunternehmen der White Star Line. Wie dieser Herr vom Untergang der Titanic profitieren wollte, ist wohl einleuchtend. Durch die Vermählung seines Sohnes Graham mit der Tochter von Pierpont Morgan setzte er noch eines drauf. Der unbedarfte Sohn wusste von all dem nichts. Sein Vater wollte sich die White Star Line und ihre noch verbliebenen Schiffe einverleiben.«
»Wenn nun also«, meldete Watson erneut Zweifel an, »der Anführer und zwei seiner Krieger vor uns liegen, so fehlt doch der dritte Krieger. Ist er zu Verstand gekommen? Hat er den verrückten Mr. King und seine Kameraden umgelegt? Wo ist er?«
»Der dritte Krieger des König David«, fuhr Holmes in aller Ruhe fort, »wurde schon vor einigen Monaten auf unserer Gedenkreise getötet, an Bord der RMS Olympic. Es handelte sich dabei um Mr. Hatter, Mr. John Hatter, der als Funker der Titanic für die Logistik des Anschlages zuständig gewesen war. Alice erkannte ihn wieder als den Mann, der den kleinen Peter brutal aus dem Rettungsboot geworfen hatte. Hatter betäubte das Mädchen, dessen Mutter und den Adoptivvater, entführte Alice, um damit von seiner geplanten Flucht mit einem Rettungsboot abzulenken. Er hatte auch die Malerin Oldman-Smythe über Bord katapultiert. Sie bezahlte ihre Erpressungsversuche mit dem Leben. So wie unser Freund, der Journalist Conolly, den er erschoss. Damit, meine ich, wäre alles Wesentliche zu dem militärisch ehrenhaften Verhalten dieser Männer gesagt.«
»Wer aber steckt nun hinter der Liquidierung von David King und seinen Soldaten?«, fragte Watson.
»Cherchez la femme. Wie ich bereits sagte. Denken Sie an die Kutsche, die uns auf unserer Fahrt hierher begegnete. Sie erinnern sich, Watson, Brigadier Hurst? In ihr saß eine Frau, die von John Pierpont Morgan den Auftrag erhalten hatte, den Untergang der Titanic zu klären. Und das hat sie gemacht, mit bekannter List und Hartnäckigkeit. Irene Adler, als Bibliothekarin an Bord der Olympic, erschoss John Hatter.«
»Und hinterlegte das wertvolle Collier von Mrs. Oldman-Smythe in seiner Kabine, nachdem sie es Ihnen entwendet hatte.«
»Nicht ganz. Das Collier brachte ich in Abwesenheit des noch lebenden Hatter in dessen Unterkunft. Schließlich war er der rechtmäßige Besitzer, bevor er die Kette an Mrs. Oldman-Smythe abgetreten hatte.«
»Aber sie wollte mehr.«
»Und sie bekam es. Ich wollte den Mann mit der Rückgabe verunsichern, den Druck auf ihn schrittweise steigern. Dann aber schlug Irene Adler zu.«
»Und das wiederholte sich hier in Kingsgate Hall«, sagte Watson mit einem skeptischen Blick auf seinen Freund.
»So ist es. Die Frau ist mir einfach überlegen. Ich muss dies neidlos eingestehen.«
Nachdem sich Watson um das noch immer betäubte Personal gekümmert hatte – niemand von ihnen befand sich in Lebensgefahr –, zog die Truppe um Colonel Thomson ab.
»Ich danke Ihnen, meine Herren, für die Bereitschaft, Ihr Leben zu wagen. Es lag nicht in unserer Hand, dass es ganz anders kam.«
»Ich habe den Verdacht, dass Sie dieses Mal nicht von Mrs. Adler hinters Licht geführt wurden«, sagte Dr. Watson zu Holmes, nachdem die Soldaten den Saal verlassen hatten. »Ich beschuldige Sie hiermit, Holmes, dass Sie das Ihnen zur Genüge bekannte Wesen dieser Frau und ihre Taten benutzt haben, um genau das zu erreichen, was Sie eigentlich wollten: Die Vernichtung dieser Männer. Sie wollten nicht, dass sie, wie Ihr Bruder das plante, in ein Nobelasyl für Geisteskranke gebracht wurden, aus dem sie flüchten könnten oder in einigen Jahren freikämen, mit allen gefährlichen Folgen für das Land.«
»Und die Welt, Watson. Diese Männer wollten mehr als die Vernichtung von Versicherungsagenturen und von Schiffen. Sie planten die Übernahme der englischen Armee, eine Neuordnung Englands und darüber hinaus … Aber das werde ich am besten aufschreiben. Der Fluch der Titanic wird der erste und wohl auch letzte Fall sein, in dem ich mich als Schriftsteller versuche. Sie erhalten den Text um Ostern herum, wenn Sie versprechen, ihn nach der Lektüre zu vernichten.«