»Tante Jane hat Ihnen von mir erzählt?«, fragte das Mädchen.
»Wir hatten noch nicht die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch. Leider«, heuchelte Holmes. »Ich schließe von der gesunden Gesichtsfarbe und den kräftigen Händen auf Ihren Hintergrund. Und die Tatsache, dass Ihnen die Tante große Freiheiten gewährt, was Ihren Umgang mit jungen Männern betrifft, lässt ahnen, dass Sie nicht unglücklich sein können, Miss Lomax.«
Das junge Mädchen war errötet und Holmes erlöste sie aus der unangenehmen Situation, indem er sie bat, eine Droschke für ihn zu bestellen, für halb zehn. Erleichtert eilte Helen Lomax die Stiegen hinunter in das Erdgeschoss.
Diogenes Club
Pall Mall, London
Mycroft Holmes, der 68-jährige Bruder des Detektivs, ein untersetzter Mann von beachtlicher Statur, empfing Sherlock im Stranger's Room, dem einzigen Platz im Gebäude des Diogenes Clubs, an dem Gespräche erlaubt waren.
»Ich gehöre zwar zu den Gründern des Clubs, doch selbst mir würde der unmittelbare Ausschluss drohen, sobald ich das wichtigste unserer Gesetz breche«, erklärte Mycroft Holmes.
»Sobald du in den Clubräumlichkeiten sprichst.«
»So ist es, Bruder. Ein Paradies für Männer. Man ist in Gesellschaft und muss nicht reden. Du bist in letzter Zeit fülliger geworden, Sherlock.«
Sherlock Holmes hatte sich erhoben. »Da du mir nichts Wesentliches mitzuteilen hast, wirst du verstehen, wenn ich mich entferne und dir die Möglichkeit gebe, in deinem Club weiter zu schweigen. Ein Verhalten, das ich dir angesichts dessen, was du vorzubringen hast, nur empfehlen kann.«
»Du entschuldigst, Sherlock. Ich dachte mir, gepflegte Scherze seien unter Brüdern möglich. Ich komme also zur Sache. Zu einer brisanten Sache, in der sich ein Clubmitglied an mich gewandt hat, mit der Bitte, dich zu beauftragen …«
»Ich nehme keine Aufträge mehr an", unterbrach Sherlock Holmes.
»Mit der Bitte, dich höflichst zu ersuchen …«
»Und dieses Clubmitglied«, sagte Holmes, »lauscht inzwischen an der halb geöffneten Tür zum Nebenraum.«
»Tritt ein, Bruce, der geniale Detektiv will es anders, als wir es uns gedacht haben«, sagte Mycroft Holmes.
Ein schlanker Mann mit dunklem Haar und einem beinahe verwegenen Schnurrbart betrat den Stranger's Room des Diogenes Clubs.
»Das ist mein Clubkollege Joseph Bruce Ismay, der Inhaber der White Star Line.«
Als Sherlock Holmes dem Mann die Hand schüttelte, bemerkte er, dass diese eiskalt und feucht war. Bruce Ismay stand unter psychischem Druck, was auch der starre Blick seiner eisgrauen Augen verriet.
»White Star Line. Das ist doch die Schifffahrtslinie, der die Titanic gehörte«, sagte der Detektiv.
»So ist es«, bestätigte Mycroft Holmes und zündete sich seine Bruyère-Pfeife an. Bald hüllte der aromatische Geruch des Royal Navy Flakes die Männer ein.
Der Cream-Sherry, den ein Butler des Clubs servierte, brachte in das bleiche Gesicht des etwa fünfzigjährigen Bruce Ismay die Farbe zurück.
»Ja. Die Titanic war der große Stolz von J. P. Morgan und mir.«
»John Pierpont Morgan ist der amerikanische Teilhaber Ihrer Firma, wenn ich mich nicht irre«, wandte Sherlock Holmes ein.
»Sein Sohn, John P. Morgan junior, ist Eigentümer der International Mercantile Marine, der Mutterfirma von White Star«, präzisierte Bruce Ismay. »Sein Vater starb ein Jahr nach dem Untergang der Titanic, im März 1913.«
Mycroft Holmes fuhr fort: »Um zum Kern der Sache zu kommen; die Gerüchte und Anschuldigungen gegen Bruce und seinen amerikanischen Freund sind seit dem Unglück nicht verstummt und haben durch die Sensationsartikel der Pall Mall Gazette neuen Auftrieb erhalten. Die verrückten Journalisten werfen Bruce und dem verstorbenen Pierpont Morgan vor, das Schiff versenkt zu haben, um für ihre Firma eine gigantische Versicherungssumme zu kassieren.«
Joseph Bruce Ismay ergriff mit zitternder Hand sein Sherry-Glas und trank es auf einen Zug leer. Dann sagte er: »Es ist mir aus geschäftlichen und privaten Gründen außerordentlich wichtig, von diesen Anschuldigungen reingewaschen zu werden. Deshalb, Mr. Holmes, habe ich mich mit der Bitte an Ihren Bruder gewandt, den Kontakt zu Ihnen herzustellen. Ihr Name hat Gewicht in weiten Teilen der Welt. Und wenn Sie nach eingehender Untersuchung zu dem Schluss kommen, dass es sich bei den Verdächtigungen um gemeine Lügen handelt, dann …«
Der Mann konnte nicht weitersprechen. Er zitterte am ganzen Körper.
»Sie sagten, dass Ihnen eine Klärung der Umstände aus geschäftlichen und privaten Gründen wichtig sei, Mr. Ismay«, sagte der Detektiv. »Ich frage Sie nun, welcher Art die privaten Gründe sind?«
»Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, diese darzulegen«, antwortete der Mann, »aber ich will es versuchen.«
Mycroft Holmes unterbrach seinen Freund: »Ich werde Sherlock davon berichten. Bruce nahm selbst an der verhängnisvollen ersten Fahrt der Titanic teil. Er wurde gegen seinen Willen in ein Rettungsboot geworfen und überlebte.«
»Während ringsum Menschen um ihr Leben kämpften und viele diesen Kampf verloren«, ergänzte der Mann beinahe unhörbar.
»Bruce Ismay, der während der Fahrt nach New York an Bord der RMS Carpathia von einem Arzt mit Opium beruhigt werden musste, ist seither ein geschlagener Mann, obwohl er in peinlichen Untersuchungen vor amerikanischen und britischen Behörden seine Unschuld nachweisen konnte.«
»Mit Ausnahme der Schuld, überlebt zu haben, während Hunderte andere im Eiswasser umkamen«, wandte der Mann ein. »Ich höre die Schreie der Ertrinkenden, sobald ich mich zum Schlafen lege. Ohne Betäubung finde ich keine Ruhe mehr.«
»Und nun die neuerlichen, unerhörten Anschuldigungen der Journalisten«, ergänzte Mycroft Holmes.
»Einer von ihnen musste sein Leben lassen. Der Mann wurde erschossen«, stellte Sherlock Holmes fest.
»Was die Sache nur noch schwieriger macht«, sagte Bruce Ismay. »Man verdächtigt mich, auch daran Schuld zu tragen. Ich bitte Sie, Mr. Holmes, um alles in der Welt, befreien Sie mich von den Anschuldigungen. Ich werde Sie sehr gut bezahlen.«
»Ich werde alles unternehmen, Licht in das Dunkel zu bringen. Ich muss Sie aber warnen, Mr. Ismay. Sollte ich unehrenhaftes Verhalten auf Ihrer Seite oder auf der Seite Ihrer amerikanischen Geschäftspartner entdecken, werde ich meine Erkenntnisse keinesfalls verschweigen und sie den Behörden übermitteln.«
»Das ist ganz in meinem Sinn, Mr. Holmes«, bekräftigte der Reeder. »Damit Sie sehen, wie ernst es mir ist, werde ich Ihnen eine bedeutende Anzahlung zukommen lassen.«
»Gut. Das erleichtert die Ermittlungen«, sagte Holmes und fügte hinzu: »Als Erstes werde ich die Artikel über den angeblichen Versicherungsschwindel lesen. Sie können mir doch die Zeitungsausschnitte zur Verfügung stellen, Mr. Ismay?«
»Sehr ungern. Dieses elende Geschmiere ist wie Leichengift. Es breitet sich immer weiter aus und macht das Leben zur Hölle.«
»Ich muss darauf bestehen.«
»Ich werde Ihnen die Artikel noch heute zukommen lassen, Mr. Holmes. Es ist mir bewusst, dass ich nicht wehleidig sein darf, wenn ich je aus diesem dunklen Tal herauskommen will.«
»Eine letzte Frage für heute«, wandte sich Holmes erneut an sein Gegenüber. »Wo hielt sich Ihr amerikanischer Geschäftspartner auf, als das Schiff sank?«
»J. P. wollte auch an der Jungfernfahrt teilnehmen, aber er erkrankte. Ich war schon an Bord, als ich die Nachricht erhielt, dass er verhindert war.«
Das verschnürte Paket, das ein Kutscher am späten Nachmittag bei Mrs. Hudson abgab, blieb den ganzen Abend über und auch am nächsten Vormittag unberührt.