Holmes studierte die nächsten zwei Tage Versicherungsakten, die in Zusammenhang mit der gesunkenen Titanic standen. Als er sich das nötige Wissen verschafft hatte, bedankte er sich bei Mrs. Rollings mit einer Schachtel Charbonnel & Walker-Pralinen für ihre Erklärungen, die ihm halfen, die schwierige Materie zu verstehen, und den Tee, den sie ihm täglich mit feinen Sandwiches servierte.
»Seit wann arbeiten Sie hier, Mrs. Rollings?«
»Seit undenklichen Zeiten. Mr. Faber, der Vater unseres Chefs, engagierte mich, als ich sechzehn war. Miss Gordon, seine damalige Sekretärin, bildete mich aus, und vor zehn, nein, vor neun Jahren, übernahm ich ihn von ihr.«
»Ich danke Ihnen für alles, Mrs. Rollings.«
»Ihre Gegenwart bedeutete eine begrüßenswerte Abwechslung in meiner täglichen Routine, Mr. Holmes.«
Sherlock Holmes und sein Begleiter, der Journalist Robert M. Conolly, waren bereits am 8. April nach Southampton gereist, wo sie im Hauptquartier der White Star Line die aktuelle Passagierliste der Olympic, mit der sie nach New York reisen würden, prüften. Holmes und Conolly verglichen sie mit jener des Schwesterschiffes Titanic, das dieselbe Reise drei Jahre zuvor angetreten, aber nicht vollendet hatte.
Der Detektiv übernahm die heikle Aufgabe, Mr. Ismay, den Besitzer der White Star Line, und den Journalisten, der die Anschuldigungen gegen ihn und seinen amerikanischen Partner erhoben hatte, einander vorzustellen.
Holmes sagte: »Ich versichere Ihnen, Mr. Ismay, dass Mr. Conolly keine weiteren Artikel gegen Sie veröffentlichen wird, bis ich den Fall gelöst habe. Stellt sich dabei die Unschuld der White Star Line heraus, wird er darüber berichten. Wir arbeiten eng zusammen.«
Joseph B. Ismay nickte stumm und sagte dann, ohne Conolly anzusehen: »Ich vertraue Ihnen, Mr. Holmes.«
Am Samstag, dem 10. April 1915, gegen zwölf Uhr Mittag, verließ der Dampfer Olympic bei kaltem und windigem Wetter den Hafen von Southampton. Der gigantische Schiffsrumpf mit einer Verdrängung von beinahe 60.000 Tonnen durchpflügte das Wasser des Hafens mit einer solchen Gewalt, dass die restlichen Schiffe mit Stahltrossen gesichert werden mussten, um nicht losgerissen zu werden.
Bruce Ismay, der wie Holmes durch Ölzeug gegen den Regen geschützt auf dem vorderen Schiffsdeck stand, erzählte, dass es am 10. April 1912, als die Titanic in See stach – es war ein Mittwoch, wie sich der Reeder erinnerte – schon bei der Abfahrt beinahe zu einem Zusammenstoß mit der New York gekommen wäre, die durch die Gewalt der Strömung losgerissen worden war und gegen die Titanic trieb. Zwei Schlepper konnten eine Kollision verhindern.
»Kein Mensch ahnte, dass dieses mächtige Schiff verletzbar wäre. Man hätte annehmen können, dass alles, was sich dem Giganten in den Weg stellte, zermalmt würde«, meinte Bruce Ismay. »Ich werde Sie mit dem Kapitän bekannt machen, Mr. Holmes, sobald wir die Isle of Wight hinter uns gelassen haben. Die Passage ist eng und stark befahren. Sie erfordert seine volle Aufmerksamkeit.«
Die Bordkapelle spielte Melodien aus The Chocolate Soldier, darunter Thank the Lord the War Is Over, eine musikalische Behauptung, die auf die gegenwärtige politische Lage nicht zutraf, und Holmes zog sich in seine Erste-Klasse-Suite im 6. Stockwerk des Schiffes zurück. Er bewohnte die Kabine gemeinsam mit Conolly.
Wie die Titanic verfügte die Olympic über einen Rauminhalt von über 46.000 Bruttoregistertonnen, eine Länge von 886 und eine Breite von 98 Fuß. Die mit weichen Teppichen ausgelegten Korridore erstreckten sich auf 4,4 Meilen. Die Höhe vom Kiel bis zu den vier Schornsteinen betrug 184 Fuß. Das Schiff konnte eine Höchstgeschwindigkeit von 22 Knoten erreichen, hatte eine Besatzung von 885 Mann und war in der Lage, 3.300 Passagiere, die in 762 Kabinen von drei Qualitätsklassen untergebracht waren, an Bord zu nehmen. Die Suite des Detektivs und seines Begleiters war im überladenen Belle-Époque-Stil ausgestattet.
Das Schiff bewegte sich ruhig vorwärts. Nur ein leichtes Beben des Bodens verriet die enorme Kraft der drei insgesamt 51.000 PS starken Dampfmaschinen.
»Wir werden uns enorm anstrengen müssen, in dieser einen Woche – bis wir New York erreichen – sowohl die Fahrt der Titanic zu rekonstruieren, als auch das Geschehen auf dem gegenwärtigen Schiff nicht aus den Augen zu verlieren«, sagte der Detektiv zu seinem Begleiter. »Ich zähle auf Sie, Conolly.«
»Ich werde mich bemühen, mein Bestes zu geben. Wenn Sie mir allerdings einen Hinweis geben könnten, worauf ich besonders achten soll, Mr. Holmes, wäre dies eine enorme Erleichterung für mich.«
»Das ist eine methodische Herangehensweise, die ich mir lobe. Ich habe tatsächlich eine spezielle Aufgabe für Sie. Den Unterlagen zufolge gibt es außer Bruce Ismay sechs weitere Passagiere, die schon an Bord der Titanic waren. Ein bemerkenswerter Umstand, nach einem solchen Unglück noch einmal mit einem beinahe identischen Schiff auf Reisen zu gehen. Dafür muss es Gründe geben. Ich ersuche Sie, diese Menschen mit den kritischen Augen des Journalisten zu beobachten und auf die Motive zu achten, die sie an dieser Gedenkreise teilnehmen lassen.«
»Das ist selbstverständlich. Ich habe mich bereits mit ihnen beschäftigt und einiges herausgefunden.«
»Hervorragend.«
»Es handelt sich bei diesen Personen um die Malerin Vera Oldman-Smythe aus Manchester, Sarah Harrison und ihre Tochter Alice aus Newhaven, die Schauspieler Gloria Reynolds und ihre Tochter Christine aus London und um Mrs. Hilda Farland, ebenfalls aus London. Bemerkenswert ist auch, dass sich Reginald und Bertram Smith an Bord der Olympic befinden.«
»Smiths gibt es viele. Es muss sich also, da Sie die Männer erwähnen, um ganz besondere Wesen dieses Namens handeln.«
»So ist es«, bestätigte der dickliche Journalist stolz. »Es sind die beiden Brüder des Kapitäns der Titanic, des mit seinem Schiff untergegangenen Edward John Smith.«
Holmes nickte. »Das klingt durchaus interessant.«
»Und worum werden Sie sich kümmern, Mr. Holmes?«
»Ich werde versuchen, Augen und Ohren für alles und jedes offen zu halten, ohne mich auf irgendein Detail einengen zu lassen, in der Hoffnung, entscheidende Hinweise für Schuld oder Unschuld von Bruce Ismay und J. P. Morgan zu bekommen. Vielleicht mehr als das.«
Die RMS Olympic überquerte bei starkem Seegang, der jedoch auf dem Dampfer kaum zu spüren war, den Kanal und erreichte gegen halb sieben Uhr den Hafen von Cherbourg im Norden von Frankreich. Einige Passagiere der 3. Klasse verließen das Schiff, neue Reisende bestiegen es über die Landebrücke.
Bruce Ismay führte Holmes auf die Kommandobrücke zu Kapitän Hayes, einen beinahe sechseinhalb Fuß großen Mann von etwa vierzig Jahren. Der Besitzer der Schifffahrtslinie stellte die Männer einander vor und der Kapitän wünschte eine angenehme und störungsfreie Reise.
»Das Wetter sollte einigermaßen passen, abgesehen von etwas Wind. Und zu Ihrer Beruhigung, Mr. Holmes: Die Olympic ist im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin mit ausreichend Rettungsbooten versehen. Aber wer hätte mit dem Desaster gerechnet? Sie kommen sich auf einem Monstrum wie diesem unbesiegbar vor und vergessen, dass auch die Saurier ausgestorben sind.«
»Sie meinen, dass Schiffe dieser Größe keine Zukunft haben?«, fragte Sherlock Holmes nach.
»Als Urlaubs- oder Kriegsschiffe durchaus. Nicht aber als Transportmittel für Menschen. Diese Aufgabe werden Luftschiffe übernehmen. Wie dieser unglückselige Zeppelin der Deutschen.«
»Der Krieg, Kapitän, ist der Vater aller Dinge«, zitierte Holmes.
»Heraklit von Ephesos«, ergänzte Mr. Ismay. »Ja, wir werden uns umstellen müssen, den neuen Zeiten anpassen. Die Olympic ist nur zu drei Viertel belegt. Besonders die erste und zweite Klasse sind halb leer. Würden wir nicht auch Güter befördern, wären die Fahrten ein Verlustgeschäft.«