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»Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern, dass wir aus Vergangenem gelernt haben und sicher in New York ankommen werden«, beteuerte der Kapitän.

»Sie kannten Ihren Kollegen von der Titanic, Edward John Smith?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Smith war um einiges älter als ich, ja, aber wir hatten uns getroffen. Er hatte schon die Majestic befehligt, dann die Baltic und die Adriatic. Man übertrug dem erfahrenen Mann die Jungfernreisen aller großen Schiffe von White Star, auch der Olympic, mit der es allerdings das Problem des Zusammenstoßes mit der HMS Hawke gab, ein Vorfall, der in meinen Augen die Verantwortlichen«, und bei diesen Worten wandte er seinen Blick auf Bruce Ismay, »hätte alarmieren müssen. Ein Kapitän, der die sechzig überschritten hat, sollte in den Ruhestand treten und nicht mit neuester Technik konfrontiert werden. Das könnte einen älteren Mann überfordern.«

Mr. Ismay wandte seinen Blick ab und schwieg.

»Wie auch immer«, setzte Kapitän Hayes fort. »Er war in meinen Augen nicht mehr in der Lage, ein Schiff zu steuern, eine Mannschaft zu befehligen. Doch keiner der Offiziere hatte den Mut, in den entscheidenden Minuten das Kommando zu übernehmen. So ging wertvolle Zeit verloren. Das Unheil nahm seinen Lauf.«

»Es wäre mir außerordentlich wichtig, wenn Sie den Hergang des Unglücks aus Ihrer Sicht im Detail schildern, Kapitän«, meinte Holmes.

»Ich muss mich um unsere Weiterfahrt kümmern, stehe Ihnen aber morgen, bei unserem Aufenthalt in Queenstown, zur Verfügung. Wir erreichen den Hafen im Süden von Irland morgen gegen Mittag. Ich lade Sie, Mr. Holmes, Mr. Ismay, ein, das Mittagsmahl mit mir einzunehmen.« Dann wandte er sich direkt an den Detektiv mit der Frage, wie weit er in seinen Ermittlungen vorangekommen sei.

»Wie dieses Schiff, wie die Olympic, arbeite ich mich voran, durch unbekannte, trügerische Gewässer in der Hoffnung, das Ziel zu erreichen und nicht wie das Schwesterschiff tragisch zu scheitern«, erwiderte dieser, dann fügte er, mehr an sich selbst gerichtet, hinzu: »Ich vermute, dass sich an Bord der Olympic auch Menschen befinden, die ihre wahre Identität verschleiern.«

DER STILLE JUNGE UND DAS STUMME MÄDCHEN

Als Holmes und Conolly den Rauchsalon betraten, klimperte ein Mann am Klavier Irving Berlins Play a Simple Melody. Der Journalist bot Holmes eine seiner Bradley-Zigaretten an, der Detektiv revanchierte sich, indem er den Steward zwei Gläser Amontillado bringen ließ.

Einige Passagiere blickten durch die großen Fenster auf das Meer. An einem der Tische saß eine elegante Dame um die vierzig, mit einem Collier, an dem ein funkelnder dunkler Stein hing. Sie mischte Spielkarten.

Holmes trat an sie heran. »Mrs. Oldman-Smythe, wenn ich nicht irre. Mein Name ist Sherlock Holmes. Weiterhin möchte ich meinen Reisebegleiter vorstellen, Mr. Robert Conolly, ein Journalist.«

»Ihre Namen sind mir bekannt, meine Herren. Es ist mir eine große Ehre, Sie kennenzulernen. Nehmen Sie doch Platz, wenn Sie an einem Blick in die Zukunft interessiert sind.«

»Sie können in die Zukunft blicken, Mrs. Oldman-Smythe?«, fragte Holmes lächelnd.

»Meine Karten können das. Sie wussten auch Bescheid, was auf der letzten Reise geschehen würde.«

»Sie meinen die Reise mit der Titanic, Madam?«

»So ist es. Ich warnte die Menschen um mich herum.«

»Und nahmen dennoch selbst daran teil.«

»Die Karten«, meinte Mrs. Oldman, »warnten in erster Linie Männer.«

»Frauen und Kinder zuerst, nicht wahr?«

»Sie wollten nicht einmal einen dreizehnjährigen Jungen in das Rettungsboot zu seiner Mutter kommen lassen, weil sie ihn als Mann betrachteten. Dabei war das Boot erst halb voll.« Mrs. Oldman-Smythe bedeckte ihre Augen mit der rechten Hand, als ob sie dadurch die belastende Erinnerung ausblenden könnte.

»Was bringt Sie dazu, die Reise zu wiederholen?«

»Ein Grund ist, dass ich in die Staaten reisen muss. Und als ich in der Zeitung von der Gedenkreise las, war mir sofort klar, dass ich teilnehmen musste. Ich habe mit einigem, was damals geschah, noch nicht abgeschlossen. Aber nun zu den Karten. Was fragen wir sie?«

»Ich überlasse das ganz Ihnen, Madam«, meinte Holmes.

»Gut. Das ist sehr gut so.«

»Und Sie verraten uns Ihre Frage an das Spiel?«

»Nein. Das bleibt mein Geheimnis. Die Antwort aber betrifft auch Sie, meine Herren.«

Mrs. Oldman-Smythe begann acht Karten in Form eines X auf den Tisch zu legen. »Das Mahaf-Kreuz.«

»Mahaf, der Fährmann des Himmels, der die Seelen der Toten auf einem Boot aus Papyrus durch stürmische Gewässer in die Unterwelt führt«, ergänzte Holmes.

Mrs. Oldman-Smythe blickte überrascht von ihren Karten auf und sagte zu dem Detektiv: »Ich bewundere Männer mit Bildung. Eine ausgesprochene Rarität in unseren Tagen. Sie wissen natürlich auch, mit welchen Karten ich in unsere Zukunft blicke.«

Holmes nickte und die Frau, aus deren dunklem Haar vereinzelt weiße Strähnen leuchteten, fuhr fort: »Ich arbeite mit dem Pierpont-Morgan-Bergamo-Tarocchi, das auf das 15. Jahrhundert zurückgeht.«

»Pierpont Morgan. Der Name des amerikanischen Eigentümers der White Star Line«, wandte Holmes ein.

»Er, und nun sein Sohn, bewahren das Original dieses Spiels in ihrer Bibliothek in New York auf.«

»Sie kannten den Vater?«

»Nicht persönlich. Ich warnte ihn brieflich davor, die Titanic zu betreten.«

»Und er gehorchte Ihnen.«

»Zu seinem Glück und Wohl.«

»Er überlebte das Unglück nicht lange. John Pierpont Morgan starb 1913.«

»Das war damals noch nicht zu erkennen. Und jetzt bitte ich die Herren um absolute Ruhe. Ich muss mich konzentrieren.«

Mrs. Oldman-Smythe betrachtete schweigend die Karten, lange, dann begann sie unsicher: »Ich kann nichts erkennen. Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich spüre nichts. Eine lähmende Stille liegt über allem. Eine Stille, die alles Leben erstickt. Es ist kalt, sehr kalt. Still und kalt wie am 14. April 1912, als die Titanic sank und sich die Menschen schweigend ihrem Schicksal ergaben. Das Schweigen breitet sich als tödlicher Nebel aus, der in mich dringt, mir den Atem nimmt. Etwas greift nach mir, greift nach meinem Collier, greift nach meinem Leben. O Gott!«

Mrs. Oldman-Smythe begann hustend nach Luft zu ringen. »Entschuldigen Sie!« Mit heftigen Handbewegungen sammelte sie die Karten ein und verließ überstürzt den Raum.

»Sie trägt ein sehr wertvolles Schmuckstück. Einen schwarzen Diamanten aus Südafrika«, sagte Holmes zu Conolly, der ihn überrascht anschaute.

Eine Weile blickte der Detektiv versonnen vor sich hin. »Ich werde Mrs. Oldman-Smythe und eine Reihe anderer interessanter Passagiere zum Abendessen an unseren Tisch bitten.«

Der Speisesaal der ersten Klasse war spärlich besetzt. Wie auf der Titanic war die Halle mit Mahagoniholz getäfelt, das elfgängige Mahl wurde auf polnischem Porzellan serviert.

Holmes hatte sieben weitere Passagiere gebeten, das Abendessen mit ihm und Conolly einzunehmen. Conolly war auffallend bleich an diesem Abend. Der Journalist griff immer wieder zu einer Pillenschachtel.

»Ihr Magen rebelliert gegen die ungewohnte Bewegung des Schiffes?«, erkundigte sich Holmes bei ihm.

»Mit den Tabletten geht es einigermaßen. Ich werde mich aber davor hüten, allzu viel zu speisen«, erwiderte dieser und spülte eine weitere Pille mit Mineralwasser hinunter.

Mrs. Oldman-Smythe trug ihr Collier und ein Abendkleid aus dunkelblauem Brokat. Gegenüber von Joseph Bruce Ismay hatte Mrs. Hilda Farland Platz genommen, eine unscheinbare Frau Anfang Sechzig in einem dunkelgrauen Kostüm. Sie fixierte den Miteigentümer der White Star Line mit bösen, kalten Augen.