Выбрать главу

Pause.

«Okay. Okay, Magnus. Okay, okay.»

Ein Lehrer sprach, es war etwa in der Neunten, folgende Worte:

«Sophokles, der unter den klassischen Tragikern der Erste war, nämlich der Vortrefflichkeit und Vollendung nach, fällt mit seinem Geburtsjahre zwischen dem des Aischylos und dem des Euripides ungefähr in die Mitte, sodass er etwa ein halbes Menschenalter von jedem absteht; die Angaben stimmen nicht ganz überein. Den größten Teil seines Lebens hindurch war er ihrer beider Zeitgenosse. Mit Aischylos hat er häufig um den tragischen Efeukranz gerungen und den Euripides, der doch gleichfalls ein hohes Alter erreichte, noch überlebt.» Die jungen Türken der Stadt stellte sich Magnus dabei so vor: Watt? Hä?

«Man könnte den Aischylos einen tragischen Phidias nennen, der zur Erreichung der von ihm gewünschten Eindrücke nicht der riesenhaften Größe, der Pracht, des Goldes und des Elfenbeins entbehren konnte; wohingegen Sophokles, wie Polykletus, aus schmuckloserem Erz goss, aber mithin Bildungen schuf, welche durch die Vollkommenheiten ihrer Proportionen in den ewigen Kanon eingingen. Sehr bedeutend ist auch der Ausspruch des Philosophen Polemon, welcher den Sophokles einen tragischen Homer nannte, während wir den Homer einen epischen Sophokles nennen, äh, können.»

Als einmal die Türken eine der stadtbekannten Karnevalspartys stürmen wollten, stand Regler als lächerlicher Piratenzwerg vor dem Tor der Schule, einen Baseballschläger in der Hand. Magnus sah sich das an und hatte die Faxen dicke und stellte sich vor Regler und sah sich dann demonstrativ um. Oder auch: sah sich das Ganze an. Da trollten die Türken sich aber, den Berg wieder hinunter. Erschütterer —: Anemone, die Erde ist kalt, ist nichts, da murmelt deine Krone ein Wort des Glaubens, des Lichts.

Gottfried Benn. Benn und Latein. Velle, malle, nolle: wollen, lieber wollen, nicht wollen. Ja, was denn nun? Gar nicht wollen? Magnus war verwirrt. Das Wort Erschütterer auch. Magnus dachte: Anemone? Erschütterer? Ist das eine Aufforderung? Was soll das sein? Er überlegte. Nur noch enge Engel lecken, dachte er. Keine Anemonensohle weit und breit!

Aber solche Sprachspielereien halfen ihm auch nicht weiter in seiner gefühlten Einsamkeit. Die Eltern saßen manchmal vor der Tür der Sozialwohnung seiner Mutter und rauchten eine. Herr und Frau Taue ergingen sich dann in Erinnerungen an früher. Der Röhl, die Meinhof, Schwabing, der Rainer, der Werner. Magnus ging dann wieder los, in die Stadt, was trinken, eine rauchen, alleine sein. Weg von alldem, weit weg.

ZWEITER TEIL PLANOGRAMME

’cause we are living in a material world

And I am a material girl

Madonna

I. WARUM SICH DIE HÄNDE NICHT SCHMUTZIG MACHEN

Vor der Deutschlandzentrale eines internationalen Mineralölkonzerns standen zwei Menschen in Anzügen und betrachteten die hochaufschießende Glasfassade des Gebäudes. Es ähnelte in seiner kantigen Fremdheit einem Raumschiff, neongrell und stahlweiß strahlend, jüngst gelandet wohl und nahtlos eingepasst in das Dreieck zwischen Bauzaun, Parkplatz und Plattenbau.

«Imposant», sagte der Mann und fletschte, geblendet vom Sonnenlicht, die Zähne. «Dieses Gebäude erinnert mich an ein Gebäude in Budapest», sagte die Frau und wischte mit den Fingern in der Luft herum, um seinen Blick auf eine Reihe funkelnder Quergiebel zu lenken, «da.» Der Mann verstand aber nicht, was die Frau sagte; das Rauschen des Verkehrs schluckte ihre dünnen Worte sofort.

Statt ihrer Geste zu folgen, betrachtete der Mann heimlich die Silhouette, die ihr Körper von der Seite darbot: ein wohlgeformtes S, von Brust und Po ausladend beschrieben, weich und rund, in Mädchenhandschrift. Er lächelte; er kannte das. Sie war wohl eine von denen, wo alles ein wenig zu viel war und ins Plumpe, Matronenhafte lappte. Ihre Beine waren dick und erdverbunden, ihre Korkenzieherlocken ergossen sich als mächtige Mähne über den starken Rücken, die Wangen, rosige, nervös durchblutete Backen, strahlten die Erregung einer Nachhilfeschülerin aus. Altersreife und Teenagerplumpheit verschränkten sich in ihren Formen, Sexyness paarte sich mit Schwerkraft, mit Trägheit. Vor kurzem noch, es war keine sechs Monate her, hatte es eindeutige Spannungen gegeben zwischen ihnen:

Liebe in Geschäftszeiten der Bürohengste.

«Herr Küppersbusch, könnten Sie mir die letzten Nielsen-Daten zum Pizzen-Verkauf im Bistro gleich einmal rüberschicken?»

«Aber sicher, Frau Knüppelprecht, sicher. Ich glaube, die Pizza Salami ist besonders gut gegangen im Frühsommer.»

«Die Pizza Salami.»

«Ja, die Pizza Salami. Mit Pfefferschote.»

«Aha, na ja, Salami schmeckt ja auch gut. Mir auch.»

«Und mir auch. Vor allem mit — Pfefferschote.»

Pause. Dann Kollision:

Sie: «Welche Sorte ist denn Ihre —»

Er: «Die Farbe Ihres Stabilos passt hervorragend zu Ihrer —»

Sie: «Bluse! Danke, Herr Küppersbusch. Ihnen würde (Achtung, Teaser) was Blaues hin und wieder auch stehen.»

Er: «Was Sie nicht sagen, Frau Knüppelprecht. Ich habe mir gerade gestern ein blaues Jackett zugelegt.»

Sie: «Na, also.»

Er: «Na, bitte. Da ergänzen wir uns ja. Bis später, Frau Krüppelsrecht.»

Sie: «Das tun wir. Bis später, Herr Knoppersmusch.»

Das Büro war aufgeheizt gewesen vom Lustsurren der Ventilatoren. Die Blicke hatten geglüht, in verstohlener Erwartung, zwischen Zahlenkolonnen, Zettelrauschen und Schnellgetippse, im Funkenflug der Büroklammern, und nichts hätte der Mann lieber gewollt, als dieser Dame Blöße in einem günstigen Augenblick ganz unkollegial zu entdecken, sagen wir: sie schnell mal auf dem Kopierer zu nehmen, o ja. Diese Spannung hatte sich aber nie entladen dürfen oder können; schade, eigentlich. Und so war sie nur weniger geworden mit der Zeit, hatte sich bald wieder verloren im Alltag, im Berufsleben, im stündlichen Klein-Klein der Tabellenanalysen.

Nur in der Expressivität mancher seiner Gesten schien die alte Leidenschaft, die schon verfaulte Lust, bisweilen noch auf: Wie manieriert er ihr in den Mantel half, sie so dezent wie bestimmt am Ellenbogen fasste, durchdringend ansah, eine ironische und zugleich bitterernste Verbeugung andeutete oder ihr auf besondere Weise sein Ohr lieh; und auch auf ihrer Seite gab es solche Echos, etwa in der gespielten Zweideutigkeit ihres Lächelns, das alles und zugleich nichts bedeuten wollte, oder in dem plötzlichen Funkeln ihrer haselnussfarbenen Augen unter den gehobenen Brauen, das eine leere Gemeinschaft widerspiegelte, ein Vakuum der Vertrautheit.

So auch jetzt. Sie schwieg und lächelte ihn an. Und wartete auf seinen Einsatz. Prompt begann er, über einen berühmten Architekten zu reden, dessen Namen ihm jedoch partout nicht einfallen wollte, er palaverte über den Potsdamer Platz, der nur einige Autominuten entfernt lag, streifte dabei das Wort «Postmoderne», welches durch einen säuerlichen Gesichtsausdruck sogleich negativ markiert wurde — als etwas Abgehobenes, Praxisfernes, als etwas Sogenanntes. Beide waren sich völlig bewusst darüber, dass sie nur redeten, um Zeit herauszuschinden. Sie waren einen Tick zu früh hier und mussten noch ein, zwei Minuten überbrücken. Wer zu früh kommt, wirkt bedürftig. Während seine Finger ein imaginäres Fenster andeuteten, fast zärtlich, fast wehmütig, und seine Worte keinen rechten Sinn ergaben, lächelte sie und zählte die Sekunden mit. Noch vierzig. Noch dreißig. Noch zehn. Jetzt.