Wir waren schon auf seiner anderen Seite, als unsere Geschwindigkeit plötzlich nachließ und wir schließlich fast ganz zum Stehen kamen. Wir schienen in einem toten Gewässer zu sein. Der Sturm hatte sich gänzlich gelegt und einen klaren blauen Himmel hinterlassen. Der durch den Sturm hervorgerufene schwere Seegang brach sich an dem Vorgebirge, und die Flut, die so wild den Fluß hinaufgeströmt war -wir befanden uns jetzt in einer Flußmündung -, hatte ihre Kraft verloren. Während wir so ruhig dahintrieben, schöpften wir, bevor der Mond unterging, das Wasser aus dem Boot und richteten es wieder her, so gut es ging. Leo schlief fest, und ich hielt es für das klügste, ihn nicht zu wecken. Zwar waren seine Kleider durchnäßt, doch die Nacht war jetzt so warm, daß dies nach meiner - und Jobs - Ansicht einem Mann von so robuster Konstitution nicht schaden konnte. Überdies hatten wir ja auch keine trockenen zur Hand.
Der Mond ging jetzt unter, und wir trieben langsam weiter auf dem Wasser dahin und hatten endlich Muße, über das Erlebte und Überstandene nachzudenken. Job saß am Bug, Mahomed blieb auf seinem Posten am Steuer, und ich nahm in der Mitte des Bootes neben Leo Platz.
Langsam ging in keuscher Lieblichkeit der Mond unter; er verschwand wie eine süße Braut, die sich in ihr Gemach zurückzieht, und lange Schatten verhüllten den Himmel wie ein Schleier, durch den zaghaft die Sterne blinzelten. Bald jedoch verblaßten auch sie vor der Helligkeit, die ihm Osten emporstieg. Immer ruhiger wurde die See, ruhig wie der zarte Nebel, der über ihr hing. Von Osten nach Westen eilten die Engel der Dämmerung, von Meer zu Meer, von Berg zu Berg, mit vollen Händen ihr Licht ausstreuend. Klar und herrlich entstiegen sie der Finsternis wie die Geister der Gerechten dem Grabe, schwebten über die ruhige See und die Küste, über die Sümpfe dahinter und die Berge darüber, über Menschen, die in Frieden schliefen und in Sorge wachten, über die Bösen und über die Guten, über die Lebenden und über die Toten, über die ganze weite Welt und alles, was auf ihr atmete oder einstmals geatmet hat.
Es war ein erhabener, wunderschöner Anblick, und dennoch stimmte er, vielleicht des Übermaßes an Schönheit wegen, traurig. Aufgang und Untergang der Sonne - Symbol des Werdens und Vergehens alles Menschlichen! Nie empfand ich dies so klar und eindringlich wie an diesem Morgen. Die Sonne, die heute für uns aufging, war gestern abend für achtzehn unserer Mitreisenden untergegangen - auf ewig untergegangen für achtzehn Menschen, die wir kannten!
Mit ihnen war die Dhau versunken, und sie trieben nun dahin zwischen Klippen und Seetang, menschliches Treibgut im großen Ozean des Todes! Nur wir vier hatten überlebt. Doch eines Tages, wenn die Sonne aufgeht, werden wir unter den Verlorenen sein, und andere werden diese herrlichen Strahlen betrachten und inmitten all der Schönheit in Traurigkeit versinken und angesichts des glanzvoll erwachenden Lebens des Todes gedenken.
Denn dies ist Menschenlos.
5
Der Kopf des Aethiopiers
Endlich hatten die Herolde und Vorläufer der Sonnenkönigin ihr Werk getan und die Schatten in die Flucht gejagt. Nun erhob sie sich strahlend aus ihrem Meeresbett und überflutete die Erde mit Licht und Wärme. Ich saß im Boot, lauschte dem leisen Plätschern des Wassers und sah zu, wie die Sonne aus dem Meer stieg, als sich unversehens die Felskuppe am Ende des von uns unter so großer Gefahr umschifften Vorgebirges zwischen mich und das majestätische Bild schob und es meinem Blick entzog. Ich starrte, tief in Gedanken versunken, weiter vor mich hin, bis plötzlich mein Blick auf die sich scharf vom hellen Himmel abhebenden Umrisse der Felskuppe fiel und ich zusammenzuckte, denn ich bemerkte, daß die Spitze des Felsens, der etwa achtzig Fuß hoch war und an seiner Basis hundertfünfzig Fuß Umfang haben mochte, wie ein Negerkopf geformt war, dessen Gesicht einen teuflischen, schreckenerregenden Ausdruck hatte. Es gab keinen Zweifel; klar hoben sich die wulstigen Lippen, die dicken Backen und die platte Nase von dem glühenden Hintergrund ab. Und da war auch der runde Schädel, dem wohl Wind und Wetter in Tausenden von Jahren seine Gestalt verliehen hatten, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, wucherte darauf ein Gestrüpp von Unkraut oder Flechten, das dem Kraushaar eines riesigen Negers glich. Es war ein überaus seltsames Bild; so seltsam, daß ich heute annehme, es handle sich nicht um eine Laune der Natur, sondern um ein gigantisches Denkmal wie die ägyptische Sphinx, das ein vergessenes Volk aus dem Felsen schlug, vielleicht zur Abschreckung von Feinden, die sich von der See her näherten. Leider gelang es uns nicht festzustellen, ob dies der Fall war, denn der Felsen war sowohl von der Land- wie von der Wasserseite her sehr schwer zugänglich, und wir hatten auch Wichtigeres zu tun. Ich persönlich bin angesichts dessen, was wir später sahen, der Meinung, daß er von Menschenhand geformt wurde, doch wie dem auch sein mag - er steht dort und starrt düster von Jahrhundert zu Jahrhundert hinaus aufs Meer. Er stand dort schon vor zweitausend und mehr Jahren, als Amenartas, die ägyptische Prinzessin und Gemahlin von Leos fernem Vorfahren Kallikrates, sein teuflisches Gesicht erblickte, und ich zweifle nicht daran, daß er dort noch stehen wird, wenn so viele Jahrhunderte, wie zwischen ihrem und unserem Tag liegen, dem Jahr unseres Todes hinzugezählt werden.
»Was sagst du dazu, Job?« fragte ich unseren Diener, der, sich sonnend und düster vor sich hinstarrend, auf dem Bootsrand saß, und deutete auf den unheimlichen Kopf.
»O mein Gott, Sir«, erwiderte Job, der ihn jetzt erst erblickte, »der Teufel selbst muß dafür Modell gesessen haben.«
Ich lachte und weckte damit Leo auf.
»Nanu«, sagte er, »was ist denn mit mir los? Ich bin ja ganz steif - wo ist die Dhau? Gebt mir bitte einen Kognak.«
»Sei froh, daß du nicht noch steifer bist, mein Junge«, antwortete ich. »Die Dhau ist untergegangen, und alle anderen, bis auf uns vier, sind ertrunken. Und du wurdest nur durch ein Wunder gerettet.« Und während Job in einem Spind nach dem Kognak suchte, berichtete ich ihm von unserem nächtlichen Abenteuer.
»Großer Gott!« sagte er leise. »Kaum zu glauben, daß gerade wir dazu auserkoren wurden, zu überleben!«
Job brachte die Kognakflasche, und wir taten alle einen tiefen Zug daraus. Auch die Sonne gewann jetzt an Kraft und durchwärmte unsere starren Glieder, wofür wir sehr dankbar waren, denn immerhin waren wir nun seit über fünf Stunden völlig durchnäßt.
»Sieh da«, sagte Leo, als er tief aufatmend die Flasche vom Mund nahm, »da ist ja dieser Kopf, von dem die Inschrift auf der Scherbe spricht, der >wie der Kopf eines Äthiopiers geformte Felsen<.«
»Ja«, sagte ich, »da ist er.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte er. »Dann ist auch alles andere wahr.«
»Ich bin nicht so sicher, daß man dies daraus schließen kann«, sagte ich. »Daß dieser Kopf hier ist, wußten wir ja; denn dein Vater hat ihn gesehen. Höchstwahrscheinlich ist es aber nicht derselbe Kopf, von dem auf der Scherbe die Rede ist; und selbst wenn er es wäre, so würde das nichts beweisen.«
Leo lächelte überlegen. »Du bist ein ungläubiger Thomas, Onkel Horace«, sagte er. »Nun, wir werden ja sehen.«
»Das meine ich auch«, antwortete ich. »Doch jetzt richte bitte deine Aufmerksamkeit auf jene Sandbank, über die wir in die Flußmündung treiben. Nimm dein Ruder, Job. Wir wollen hineinrudern und uns nach einem Platz zum Landen umsehen.«
Die Flußmündung, in der wir uns jetzt befanden, schien nicht sehr breit zu sein, doch infolge der langen Nebelschwaden, die immer noch über ihren Ufern hingen, konnten wir ihre genauen Ausmaße nicht erkennen. Wie in den meisten ostafrikanischen Flußmündungen befand sich auch in dieser eine ausgedehnte Sandbank, die zweifellos bei Landwind oder Ebbe selbst für Boote mit sehr niedrigem Tiefgang unpassierbar war. Uns behinderte sie jedoch kaum, und wir gelangten leicht über sie hinweg. In etwa zwanzig Minuten hatten wir es geschafft und wurden von einem starken, wenn auch etwas veränderlichen Wind weiter stromauf getrieben. Mittlerweile hatte die heiß herniederbrennende Sonne den Nebel verscheucht, und wir sahen, daß die Flußmündung an dieser Stelle etwa eine halbe Meile breit war. Die beiden Ufer waren sumpfig und wimmelten von Krokodilen, die regungslos wie Baumstämme im Schlamm lagen. Ungefähr eine Meile vor uns entdeckten wir jedoch einen Streifen festen Landes, auf den wir zusteuerten. Nach einer weiteren Viertelstunde erreichten wir ihn und banden das Boot an einen schönen Baum, der breite glänzende Blätter und magnolienartige Blüten hatte, nur daß sie nicht rötlich[6] waren. Wir stiegen an Land, zogen uns aus, wuschen uns und breiteten unsere Kleider sowie den Inhalt des Bootes in der Sonne zum Trocknen aus. Sodann ließen wir uns im Schatten einiger Bäume nieder, bereiteten uns aus den Büchsen mit eingemachter Zunge, von denen wir einen ansehnlichen Vorrat besaßen, ein kräftiges Frühstück und beglückwünschten uns, daß wir am Tag zuvor, ehe der Orkan die Dhau zerstörte, unsere Sachen und den Proviant in das Walboot umgeladen hatten. Als wir mit dem Essen fertig waren, schlüpften wir in unsere indessen getrockneten Kleider und fühlten uns wie neugeboren. Sieht man von unserer Müdigkeit und einigen Schrammen ab, so hatten wir das schreckliche Abenteuer, das unsere Gefährten das Leben kostete, heil überstanden. Leo war zwar halb ertrunken, doch für einen kräftigen jungen Mann von fünfundzwanzig Jahren ist das keine große Sache.
6
Es gibt eine Magnolienart mit rötlichen Blüten - die in Sikkim heimische Magnolia Campbelli. -