»So ist es«, sagte sie. »Denn ich habe, halb durch Zufall, halb durch Forschen, eines der großen Rätsel der Welt gelöst. Sage doch selbst, Fremdling: Das Leben ist - warum also sollte es nicht um eine Weile verlängert werden können? Was sind zehn- oder zwanzig- oder fünfzigtausend Jahre in der Geschichte des Lebens? In zehntausend Jahren vermindern Sturm und Regen einen Berggipfel kaum um eine Handbreit. In zweitausend Jahren haben diese Höhlen sich nicht verändert, nichts hat sich verändert, nur die Tiere und die Menschen, die den Tieren gleichen. Wenn du doch nur begreifen würdest, daß daran gar nichts Wunderbares ist! Das Leben selbst ist ohne Zweifel wunderbar, doch daran, daß es ein wenig verlängert werden kann, ist nichts Wunderbares. In der Natur wohnt der Geist des Lebens ebenso wie im Menschen, der ein Kind der Natur ist, und wer diesen Geist findet und ihn einatmet, der lebt von ihrem Leben. Er lebt nicht ewig, denn die Natur ist nicht ewig und muß auch sterben, so wie die Natur des Mondes gestorben ist. Auch sie, sage ich, muß sterben oder besser: sich wandeln und schlafen, bis sie wieder neugeboren wird. Doch wann wird sie sterben? Noch nicht so bald, glaube ich, und solange sie lebt, lebt auch der, der das Geheimnis ihres Lebens ergründet hat. Ganz ist es mir noch nicht gelungen, doch zum Teil - mehr jedenfalls als irgend jemandem vor mir. Ein andermal will ich dir mehr davon erzählen, wenn ich in der rechten Stimmung dazu bin; vielleicht aber auch werde ich nie mehr davon reden. Wundert es dich, woher ich wußte, daß ihr in dieses Land kamt, und so eure Köpfe vor dem heißen Topf retten konnte?«
»Ja, o Königin«, erwiderte ich leise. »Dann blicke auf dieses Wasser«, und sie deutete auf das Wasserbecken, beugte sich vor und hielt ihre Hand darüber. Ich erhob mich und starrte auf das Wasser, welches sich im gleichen Augenblick verdunkelte. Dann wurde es wieder klar, und ich sah ganz deutlich - den schrecklichen Kanal und darauf unser Boot. Leo lag darin auf dem Boden und schlief, einen Mantel über sich gebreitet, der die Moskitos fernhielt und sein Gesicht verbarg; und ich, Job und Mahomed zogen am Ufer das Boot.
Ich fuhr erschrocken zurück und rief, das sei ja Zauberei, denn diese Szene kannte ich - so hatte sie sich wirklich zugetragen.
»Nein, nein, o Holly«, sprach sie, »das ist nicht Zauberei; das glaubst du nur in deiner Unwissenheit. Es gibt keine Zauberei, sondern nur ein Wissen um die Geheimnisse der Natur. Dieses Wissen ist mein Spiegel. In ihm sehe ich, was geschieht, wenn ich Lust verspüre, die Bilder heraufzubeschwören, was nicht oft vorkommt. Ich kann dir darin alles aus der Vergangenheit zeigen, wenn es etwas ist, was mit diesem Land oder mit meiner oder deiner Vergangenheit zusammenhängt. Wenn du willst, stelle dir ein Gesicht vor, und deine Gedanken werden es auf dem Wasser widerspiegeln. Noch kenne ich nicht das ganze Geheimnis - ich kann nichts sehen, was in der Zukunft liegt. Ich habe dieses Geheimnis jedoch nicht entdeckt, es ist schon sehr alt. In Arabien und Ägypten kannten es die Zauberer schon vor vielen Jahrhunderten. Eines Tages dachte ich zufällig an jenen alten Kanal, auf dem ich vor zwanzig Jahren segelte, und ich wünschte mir, ihn zu sehen. So blickte ich in das Wasser und sah das Boot, drei Männer, die am Ufer gingen, und einen, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte - einen Jüngling von edler Gestalt, der im Boot schlief. Deshalb gab ich Befehl, euch zu retten. Doch jetzt leb wohl. Nein, halt, erzähle mir von diesem Jüngling - dem Löwen, wie der Alte ihn genannt hat. Ich würde ihn gern sehen, doch du sagtest ja, er sei krank, er habe Fieber und sei bei dem Kampf mit den Barbaren verwundet worden.«
»Ja, er ist sehr krank«, erwiderte ich traurig. »Kannst du ihm nicht helfen, o Königin, die du so viel weißt?«
»Gewiß kann ich das. Ich kann ihn heilen; doch warum sprichst du so traurig? Liebst du den Jüngling? Ist er vielleicht dein Sohn?«
»Er ist mein Adoptivsohn, o Königin! Soll ich ihn zu dir bringen lassen?«
»Nein. Wie lange liegt er schon im Fieber?«
»Heute den dritten Tag.«
»Gut; lasse ihn noch einen Tag liegen. Dann wird er es vielleicht aus eigener Kraft überwinden, und das ist besser, als wenn ich ihn heile, denn meine Medizin ist so stark, daß sie das Leben in ihren Grundfesten erschüttert. Ist er jedoch morgen abend, zu der Stunde, da das Fieber ihn befiel, noch nicht gesundet, so werde ich zu ihm kommen und ihn heilen. Sag, wer pflegt ihn?«
»Unser weißer Diener; jener, den Billali das Schwein nennt. Und außerdem«, hier zögerte ich ein wenig, »ein Mädchen namens Ustane, ein sehr hübsches Mädchen aus diesem Lande, welches ihn, als es ihn zum erstenmal erblickte, umarmte und seither, wie es angeblich bei deinem Volke Sitte ist, bei ihm blieb, o Königin.«
»Mein Volk! Nenne es nicht mein Volk«, antwortete sie hastig. »Diese Sklaven sind nicht mein Volk, sie sind nur Hunde, die mir dienen, bis der Tag meiner Befreiung kommt; und mit ihren Sitten will ich nichts zu schaffen haben. Und nenne mich auch nicht Königin - ich bin der Schmeicheleien und Titel müde -, nenne mich Ayesha, der Name klingt süß in meinen Ohren, er ist ein Echo aus der Vergangenheit. Diese Ustane kenne ich nicht. Ob es wohl die ist, vor der ich gewarnt wurde und die ich dann meinerseits warnte? Hat sie - doch halt, ich will selbst sehen«, und sie beugte sich vor, strich mit ihrer Hand über das Wasser und blickte aufmerksam hinein. »Da, sieh«, sagte sie leise, »ist dies das Mädchen?«
Ich schaute ins Wasser und sah, gespiegelt auf seiner glatten Oberfläche, die Umrisse von Ustanes schönem Antlitz. Sie beugte sich mit einem Blick voll unendlicher Zärtlichkeit vor, so daß ihre kastanienbraunen Locken über ihre rechte Schulter fielen, und betrachtete etwas unter sich.
»Ja, das ist sie«, flüsterte ich, zutiefst bestürzt über diesen höchst merkwürdigen Anblick. »Sie bewacht Leos Schlaf.«
»Leo!« sagte Ayesha in nachdenklichem Ton. »Das heißt auf lateinisch >Löwe<. Den Namen hat der Alte gut gewählt.
Seltsam«, fuhr sie fort, als spräche sie zu sich selbst, »höchst seltsam. Diese Ähnlichkeit - doch das ist unmöglich!« Mit einer ungeduldigen Geste strich sie wieder über das Wasser. Es verdunkelte sich, und geheimnisvoll, wie es entstanden war, verschwand das Bild, und nur noch das Licht der Lampe war auf der Oberfläche dieses klaren lebenden Spiegels zu sehen.
»Hast du noch eine Bitte, bevor du gehst, o Holly?« sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Das Leben hier muß für euch sehr unbequem sein, denn diese Menschen sind Wilde und wissen nichts von der Lebensart kultivierter Menschen. Mir macht das nichts aus, denn meine Nahrung«, sie deutete auf die Früchte auf dem kleinen Tisch, »besteht nur aus Früchten. Nichts als Früchte kommt über meine Lippen - Früchte, Kuchen und ein wenig Wasser. Ich habe meinen Mädchen befohlen, euch zu bedienen. Sie sind, wie du weißt, stumm, stumm und taub, und deshalb die zuverlässigsten Diener, wenn man in ihren Gesichtern lesen kann und ihre Zeichen versteht. Ich habe sie mir so gezüchtet - es hat Jahrhunderte gedauert und viele Mühe gekostet; doch schließlich ist es mir gelungen. Es gelang mir früher schon einmal, doch die Rasse war gar zu häßlich, und deshalb ließ ich sie aussterben; heute sind sie, wie du siehst, recht annehmbar. Auch ein Geschlecht von Riesen habe ich schon einmal herangezogen, doch nach einer Weile tat die Natur nicht mehr mit, und sie gingen ebenfalls unter. Nun sag schon, hast du irgendeinen Wunsch?«
»Ja, einen, o Ayesha«, entgegnete ich kühn, obwohl ich mich alles andere als kühn fühlte. »Ich möchte dein Gesicht sehen.«
Sie ließ ihr glockenhelles Lachen hören. »Überlege dir das, Holly«, antwortete sie. »Du kennst doch sicher die alten Göttersagen Griechenlands. Erinnerst du dich an Aktäon, der elend zugrunde ging, weil er zuviel Schönheit erblickte?
Wenn ich dir mein Gesicht zeige, wirst vielleicht auch du elend zugrunde gehen; es kann sein, daß ohnmächtiges Verlangen dein Herz verzehren wird, denn du mußt wissen: Ich bin nicht für dich - ich bin für keinen Mann, außer einen, der einst war, doch noch nicht wieder ist.«