Einen Augenblick stand sie sinnend da, dann sank sie neben der Gestalt auf die Knie, drückte ihre Lippen auf das Tuch und weinte. Es war so schrecklich anzusehen, wie diese furchteinflößende Frau sich ihrer Leidenschaft zu dem Toten hingab - so viel schrecklicher als alles, was bisher geschehen war -, daß ich es nicht länger ertrug. Ich wandte mich ab und kroch, an allen Gliedern zitternd, durch den pechschwarzen Gang zurück, wobei ich tief in meinem bebenden Herzen ahnte, daß ich eine Seele in der Hölle geschaut hatte.
Vorwärts stolperte ich, ich weiß kaum, wie. Zweimal stürzte ich, und einmal bog ich in den Quertunnel ein, entdeckte jedoch zum Glück meinen Irrtum noch rechtzeitig. Zwanzig Minuten oder länger kroch ich dahin, bis mir schließlich bewußt wurde, daß ich an der kleinen Treppe, die ich hinabgestiegen war, schon vorbei sein mußte. Zutiefst erschöpft und zu Tode geängstigt, sank ich auf den Steinboden nieder und verlor das Bewußtsein.
Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich in dem Gang gleich hinter mir einen schwachen Lichtschimmer. Ich kroch auf ihn zu und stellte fest, daß es die kleine Treppe war, über die sich die Dämmerung stahl. Ich stieg hinauf und erreichte sicher meine Kammer, wo ich mich auf mein Lager warf und bald in Schlummer oder eher tiefe Betäubung sank.
15
Ayesha hält Gericht
Das nächste, dessen ich mich entsinne, ist, daß ich meine Augen aufschlug und mein Blick auf Job fiel, der sich inzwischen von seinem Fieberanfall fast ganz erholt hatte. Er stand in dem Lichtstrahl, der durch den Schacht in der Höhlendecke hereindrang, und schüttelte meine Kleider aus, da er sie in Ermangelung einer Bürste nicht ausbürsten konnte. Sodann legte er sie wieder säuberlich zusammen und auf das Fußende der Steinbank. Dies getan, holte er das Reisenecessaire aus meinem Koffer und legte es geöffnet für mich bereit. Zuerst legte er es ebenfalls auf das Fußende der Bank, doch dann nahm er es, anscheinend aus Furcht, ich könnte es hinunterstoßen, wieder weg, legte es auf ein Leopardenfell am Boden, trat ein oder zwei Schritte zurück und betrachtete es prüfend. Anscheinend war er nicht zufrieden, denn er verschloß den Koffer, stellte ihn aufrecht ans Fußende des Lagers und legte das Necessaire darauf. Dann warf er einen Blick auf die mit Wasser gefüllten Töpfe, die unsere Waschgelegenheit darstellten. »Ach!« hörte ich ihn brummen, »nicht einmal heißes Wasser gibt's an diesem gräßlichen Ort. Diese armen Kreaturen benützen es wohl nur, um einander zu kochen«, und er seufzte tief. »Was ist denn, Job?« sagte ich.
»Verzeihung, Sir«, sagte er und tippte sich an den Kopf. »Ich dachte, Sie schlafen, Sir; und Sie sehen ganz so aus, als ob Sie es nötig hätten. Nach Ihrem Aussehen zu urteilen, müssen Sie eine schreckliche Nacht verbracht haben.«
Ich stöhnte nur zur Antwort. Bei Gott, ich hatte eine Nacht hinter mir, wie ich sie nie mehr wieder zu erleben hoffte.
»Wie geht es Mr. Leo, Job?«
»Ziemlich unverändert, Sir. Wenn er sich nicht bald erholt, geht's mit ihm zu Ende. Eins muß ich ja sagen
- diese Wilde, diese Ustane, tut wirklich für ihn, was sie kann, fast wie eine getaufte Christin. Sie weicht nicht von seiner Seite und sorgt für ihn, und wenn ich auch mal nach ihm sehen will, wird sie schrecklich wütend und fängt in ihrer Heidensprache zu zetern und zu fluchen an - zumindest schließe ich aus ihrer Miene, daß sie flucht.«
»Und was tust du dann?«
»Ich verbeuge mich höflich und sage: Junge Frau, Ihre Stellung hier ist mir nicht ganz einleuchtend, und ich kann sie nicht anerkennen. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich gegenüber meinem krank darniederliegenden Herrn Pflichten zu erfüllen habe und daß ich mich davon nicht abhalten lassen werde, bis auch ich krank niedersinke<, doch sie kümmert sich überhaupt nicht darum, sondern flucht und zetert nur noch mehr. Gestern abend fuhr sie mit der Hand unter das komische Nachthemd, das sie anhat, und holte ein Messer mit einer krummen Klinge hervor, doch ich, nicht faul, zog meinen Revolver, und dann schlichen wir beide umeinander herum, bis sie schließlich laut zu lachen anfing. Es ist nicht recht, daß sich ein Christenmensch von einer Wilden, so hübsch sie auch sein mag, derart behandeln lassen muß, doch was kann man denn schon anderes erwarten, wenn man so närrisch ist« (Job hob das Wort >närrisch< mit Nachdruck hervor), »an einen solchen Ort zu reisen und nach Dingen zu forschen, die kein Mensch je finden wird. Es ist die gerechte Strafe, Sir -und ich bin der Meinung, daß es erst die halbe Strafe ist. Wenn die ganze kommt, wird's mit uns vorbei sein, und wir werden für immer und ewig in diesen gräßlichen Höhlen bei den Geistern und Toten bleiben müssen. Doch jetzt, Sir, muß ich nach Mr. Leos Suppe sehen, das heißt, wenn diese wilde Katze mich läßt; und vielleicht möchten Sie auch aufstehen, Sir -es ist schon neun Uhr vorüber.«
Jobs Bemerkungen waren für jemanden, der eine solche Nacht hinter sich hatte, nicht gerade ermunternd; und was noch schlimmer war: er hatte recht. Wenn ich alles richtig bedachte, so schien es auch mir völlig unmöglich, jemals von hier fortzukommen. Selbst angenommen, daß Leo wieder gesund wurde, daß >Sie< uns (was äußerst unwahrscheinlich schien) ziehen ließ und nicht in einem Zornesausbruch umbrachte und daß die Amahagger uns nicht mit ihren heißen Töpfen brieten, würde es uns doch ganz unmöglich sein, den Weg durch den Wirrwarr von Sümpfen zu finden, die, endlose Meilen sich erstrek-kend, eine stärkere und undurchdringlichere Befestigung um die verschiedenen Amahagger-Haushalte bildeten, als je ein Mensch sie hätte ersinnen oder errichten können. Nein, es gab nur eine Möglichkeit -sich mit dem Ganzen abzufinden und es durchzustehen; und ich für meine Person war an der unheimlichen Geschichte derart interessiert, daß ich trotz meiner zerrütteten Nerven dazu entschlossen war, selbst wenn meine Neugier mich das Leben kosten sollte. Welcher Mann, der eine Vorliebe für die Psychologie hat, hätte der Versuchung widerstehen können, einen Charakter wie den Ayeshas zu studieren, wenn sich eine so gute Gelegenheit dazu bot? Gerade die damit verbundenen Schrecken erhöhten mein Interesse, und außerdem hatte sie, wie ich mir selbst jetzt bei nüchternem Tageslicht eingestehen mußte, Reize, welche ich nicht vergessen konnte. Nicht einmal die grauenvolle Szene, deren Zeuge ich während der Nacht gewesen war, konnte diese Narrheit aus meinem Sinn vertreiben; und ach! ich muß gestehen, sie ist bis zu dieser Stunde nicht daraus verschwunden.
Nachdem ich mich angekleidet hatte, begab ich mich in die Speise- oder besser Einbalsamierungskammer und nahm ein wenig von dem Essen zu mir, welches wieder von den stummen Mädchen serviert wurde. Als ich fertig war, sah ich nach dem armen Leo, der sich in einem ganz wirren Zustand befand und nicht einmal mich erkannte. Ich fragte Ustane, was sie von ihm halte, doch sie schüttelte den Kopf und begann leise zu weinen. Offenbar hatte sie nur wenig Hoffnung, und so beschloß ich, falls irgendwie möglich, >Sie< zu bitten, sich seiner anzunehmen. Wenn sie nur wollte, konnte sie ihn sicherlich heilen -zumindest hatte sie dies behauptet. Während ich noch ins Leos Kammer war, trat Billali ein und schüttelte ebenfalls den Kopf.
»Er wird die nächste Nacht sterben«, sagte er.
»Das verhüte Gott, mein Vater«, entgegnete ich und wandte mich schweren Herzens ab.
»Die Herrscherin >Sie< möchte dich sehen, mein Pavian«, sagte der Alte, sobald wir die Kammer verlassen hatten, »doch, oh, mein teurer Sohn, sei besser auf der Hut. Gestern war ich überzeugt, daß >Sie< dich erschlagen würde, als du nicht auf dem Bauche vor sie krochst. Sie sitzt in der großen Halle über jene, die dich und den Löwen töten wollten, zu Gericht. Komm, mein Sohn, eile dich.«