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»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich, worauf sie zur linken Seite der Höhle ging und den stummen Mädchen befahl, ihre Lampen hochzuhalten. An der Wand befand sich eine Inschrift in roter Farbe, deren Buchstaben jenen unter dem Bildnis Tisnos, des Königs von Kor, glichen. Sie lautete:

»Ich, Junis, ein Priester des Großen Tempels von Kor, schreibe dies auf den Fels der Begräbnisstätte im Jahre viertausendhundertunddrei nach der Gründung von Kor. Kor ist gefallen! Nie mehr werden die Mächtigen in seinen Hallen Feste feiern, nie mehr wird es die Welt regieren, nie mehr werden seine Schiffe die Meere befahren und mit der Welt Handel treiben. Kor ist gefallen! All seine mächtigen Werke und all die Städte und Häfen und Kanäle, die es baute, sind für den Wolf und die Eule und den wilden Schwan und die Barbaren, die nach ihm kommen. Vor fünfundzwanzig Monden senkte sich eine Wolke auf Kor und die hundert Städte von Kor nieder, und aus der Wolke kam eine Pest und raffte das Volk hinweg, Alte wie Junge, einen um den anderen, und schonte keinen. Einer wie der andere wurde schwarz und starb - die Jungen und die Alten, die Reichen wie die Armen, Männer wie Weiber, Prinzen wie Sklaven. Die Pest wütete bei Tag und Nacht, und wer ihr entkam, erlag dem Hunger. Der Toten waren so viele, daß ihre Körper nicht mehr nach altem Brauch erhalten werden konnten, und so warf man sie durch das Loch im Boden dieser Höhle hinunter in den tiefen Abgrund. Dann endlich konnte sich ein Rest dieses großen Volkes, dieses Lichtes der ganzen Welt, an die Küste retten, ein Schiff besteigen und nach Norden segeln, und nun bin ich, der Priester Junis, der dieses schreibt, der letzte, der von dieser großen Stadt noch lebt, und ich weiß nicht, ob auch in den anderen großen Städten noch Menschen am Leben sind. Ich schreibe dies in tiefem Kummer, ehe auch ich sterbe.

Das kaiserliche Kor ist nicht mehr, und niemand ist mehr, der in seinen Tempeln betet, all seine Paläste stehen leer, und all seine Fürsten und Krieger und Händler und schönen Frauen sind vom Antlitz der Erde verschwunden.«

Ich stieß einen Seufzer des Erstaunens aus - die in diesen unbeholfenen Worten ausgedrückte Verzweiflung war überwältigend, der Gedanke an diesen Mann, der als einziger von einem mächtigen Volke übriggeblieben war und dessen Schicksal aufgezeichnet hatte, entsetzlich. Was muß der alte Mann empfunden haben, als er in grauenhafter Einsamkeit beim schwachen Schein einer Lampe in wenigen kurzen Zeilen die Geschichte des Untergangs seines Volkes an die Wand der Höhle schrieb? Was für ein Thema für einen Moralisten, für einen Maler, ja für jeden, der denken kann!

»Kommt dir nicht der Gedanke, o Holly«, sagte Ayesha, ihre Hand auf meine Schulter legend, »daß diese Männer, die nordwärts segelten, die Väter der ersten Ägypter gewesen sein könnten?«

»Wer kann das wissen«, sagte ich; »es scheint, die Welt ist sehr alt.«

»Ja, alt ist sie in der Tat. Seit Urzeiten sind Völker, reiche und starke Völker, in allen Künsten bewandert, immer wieder untergegangen und vergessen worden, so daß kein Andenken an sie blieb. Dies war nur eins von vielen; denn die Zeit verzehrt des Menschen Werke, es sei denn, er gräbt Höhlen, wie das Volk von Kor, und selbst diese kann das Meer verschlingen oder ein Erdbeben verschütten. Wer weiß denn, was auf Erden schon gewesen ist oder sein wird? Es gibt nichts Neues unter der Sonne, wie einst schon der weise Hebräer schrieb. Und doch glaube ich nicht, daß dieses Volk gänzlich vernichtet wurde. Einige wenige blieben in den anderen Städten verschont, denn es gab viele Städte. Doch die Barbaren aus dem Süden, vielleicht gar mein eigenes Volk, die Araber, kamen über sie und freiten ihre Weiber, und so mag das heutige Volk der Amahagger ein Mischlingsgeschlecht der Söhne Kors sein, das in den Gräbern seiner Ahnen wohnt.[14] Doch sicher weiß ich's nicht - wer könnte es auch wissen? So weit in den finsteren Schoß der Zeit vermag ich nicht zu blicken. Auf jeden Fall waren sie ein großes Volk. Sie eroberten ein Land nach dem anderen, bis es keins mehr zu erobern gab, und dann lebten sie friedlich inmitten ihrer Felsenwände mit ihren Knechten und Mägden, ihren Sängern, Künstlern und Konkubinen und trieben Handel und zankten, zechten, schliefen und vergnügten sich, bis der Tag ihres Unterganges kam. Doch komm, ich will dir den tiefen Abgrund unter der Höhle zeigen, den die Inschrift erwähnt. Niemals wieder werden deine Augen ein solches Bild schauen.«

Ich folgte ihr durch einen Seitengang, der von der Haupthöhle abzweigte, und sodann eine lange Treppe hinab und durch einen unterirdischen Schacht, der etwa sechzig Fuß unter der Oberfläche des Felsens verlief und durch merkwürdige, nach oben führende Löcher belüftet wurde. Plötzlich endete der Gang, und Ayesha blieb stehen und befahl den Stummen, die Lampen hochzuhalten, worauf ich in der Tat, wie sie es vorhergesagt hatte, ein Bild sah, wie es sich mir wohl kaum je wieder bieten wird. Wir standen in einem ungeheuren Abgrund oder, besser gesagt, am Rande eines solchen, denn er reichte noch tief - wie tief, weiß ich nicht - hinab und war von einer niedrigen Felsmauer umschlossen. Soweit ich es beurteilen konnte, mochte dieser Abgrund so groß sein wie die Kuppel der St. Pauls-Kathedrale, und als die Stummen ihre Lampen in die Höhe hielten, sah ich, daß er ein einziges riesiges Beinhaus darstellte, angefüllt mit Tausenden menschlicher Skelette, welche zu einer ungeheuren bleichen Pyramide aufgehäuft waren, entstanden durch das Hinabgleiten der zuoberst liegenden Leichen, wenn von oben neue hineingeworfen wurden. Etwas Grausigeres als diesen wirren Haufen von Gebeinen eines ausgestorbenen Volkes kann ich mir nicht denken, und noch gräßlicher wurde das Bild dadurch, daß in dieser trockenen Luft eine beträchtliche Zahl von Leichen mit der Haut auf den Knochen ausgedörrt waren und uns nun in jeder nur denkbaren Stellung aus dem Berg weißer Knochen heraus anstarrten - Karikaturen auf das Menschenalter von grotesker Schrecklichkeit. In meinem Erstaunen stieß ich einen Schrei aus, und das vielfältige Echo meiner Stimme, welches in dem Gewölbe widerhallte, störte einen der Schädel auf dem Gipfel der Pyramide aus seiner vieltausendjährigen Ruhe auf.

Er sprang herab, hüpfte in lustigen Sätzen auf uns zu und riß dabei eine Lawine anderer Gebeine mit sich, so daß ihr Geklapper die ganze Höhle erfüllte und es fast aus - sah, als erhöben sich die Skelette, um uns zu begrüßen.

»Komm«, sagte ich, »ich habe genug gesehen. Sicher sind das die Leichen jener, die der großen Seuche zum Opfer fielen, nicht wahr?« fügte ich hinzu, als wir uns abwandten.

»Ja. Das Volk von Kor hat seine Toten stets einbalsamiert, wie es die Ägypter taten, doch seine Kunst war größer als die der Ägypter, denn während die Ägypter die Eingeweide und das Gehirn entfernten, spritzten die Korer eine Flüssigkeit in die Adern, die jeden Körperteil erreichte. Doch halt - sieh es dir selbst an«, und sie blieb vor einer der Öffnungen in der Wand des Ganges, durch den wir schritten, stehen und bedeutete den Stummen, uns zu leuchten. Wir traten in eine kleine Kammer, die jener ähnelte, in welcher wir bei unserem ersten Aufenthalt geschlafen hatten; nur standen statt einer zwei steinerne Bänke oder Betten darin. Auf den Bänken lagen Gestalten, gehüllt in gelbe Leinwand, auf der sich im Lauf der Jahrhunderte ein feiner Staub angesammelt hatte, doch längst nicht so viel, wie man erwartet hätte, denn in diesen tiefen Höhlen gab es kein zu Staub zerfallendes Material. Neben den Körpern auf den Steinbänken und auf dem Boden der Grabkammer standen zahlreiche bemalte Krüge, doch sah ich in diesen Höhlen nur sehr wenige Schmuckstücke oder Waffen.

»Hebe die Tücher auf, o Holly«, sagte Ayesha, und ich streckte meine Hand aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück. Es erschien mir wie ein Sakrileg, und, um die Wahrheit zu sagen: der düstere Ernst des Ortes und die vor uns liegenden Gestalten erfüllten mich mit Furcht. Da zog sie, über meine Scheu lächelnd, selbst die Tücher fort, und zum Vorschein kamen weitere, noch feinere. Sie entfernte auch diese, und zum erstenmal seit aber Tausenden von Jahren schauten lebende Augen das Gesicht dieses Leichnams. Es war eine Frau; sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre oder ein wenig jünger gewesen sein und sicherlich von großer Schönheit. Selbst jetzt noch waren ihre ruhigen, reinen Züge mit den zarten Augenbrauen und langen Wimpern, welche kleine Schatten auf die elfenbeinerne Haut warfen, überaus schön. Da lag sie, in ein weißes Gewand gehüllt, über das ihr blauschwarzes Haar herabfloß, in ihrem letzten langen Schlaf, und in ihrem Arm, das Gesicht an ihre Brust gepreßt, ruhte ein kleines Kind. So reizend und dabei so schrecklich war dieser Anblick, daß ich - ich gestehe es ohne Scham - meine Tränen kaum zurückzuhalten vermochte. Dieses Bild führte mich zurück durch die düstere Schlucht der Zeit in das glückliche Heim im toten kaiserlichen Kor, in dem diese anmutige, schöne Frau lebte und starb und sterbend ihr Letztgeborenes mit sich ins Grab nahm.

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14

Der Name Amahagger scheint in der Tat auf eine seltsame Rassenmischung hinzudeuten, wie sie in der Gegend des Sambesi leicht erfolgt sein kann. Die Vorsilbe >Ama< entstammt der Sprache der Zulus und verwandter Stämme; >hagger< ist arabisch und bedeutet >Stein<. - Der Herausgeber.