Nun lagen Mutter und Kind vor uns, fahle Zeugen einer vergessenen menschlichen Geschichte, die mehr zu Herzen gingen als irgendeine geschriebene Darstellung ihres Lebens.
Ehrfürchtig breitete ich die Grabtücher wieder über sie, und seufzend über den unerforschlichen Willen des Schöpfers, der solche Blumen nur blühen läßt, auf daß im Grabe sie verwelken, wandte ich mich der Gestalt auf der anderen Steinbank zu und enthüllte sie behutsam. Es war ein Mann in fortgeschrittenen Jahren mit einem langen grauen Bart, gleichfalls in Weiß gekleidet - wahrscheinlich der Gatte jener Frau, der, nachdem er sie um viele Jahre überlebt, sich endlich an ihrer Seite zur letzten ewigen Ruhe gebettet hatte.
Wir verließen die Kammer und besichtigten noch andere. Es würde zu weit führen, die vielen Dinge, welche ich in ihnen sah, zu beschreiben. Jede hatte ihre Bewohner, denn die über fünfhundert Jahre, die zwischen der Fertigstellung der Höhle und dem Untergang des Volkes verstrichen waren, hatten offenbar ausgereicht, diese Katakomben, so zahllos sie waren, zu füllen, und alle Toten schienen seit dem Tage, an dem man sie darin bestattet hatte, nicht gestört worden zu sein.
Die Kunst, mit der man sie behandelt hatte, stand in so hoher Blüte, daß nahezu sämtliche Körper noch ebenso erhalten waren wie am Tage ihres Todes vor Tausenden von Jahren. Nichts hatte sie in der tiefen Stille dieses Felsens beschädigt; weder Hitze noch Kälte noch Feuchtigkeit hatte ihnen etwas anhaben können, und die Wirkung der aromatischen Stoffe, mit denen sie durchtränkt waren, schien ewig anzuhalten. Da und dort sahen wir jedoch auch eine Ausnahme, und in diesen Fällen zerfiel das Fleisch, so gesund es auch von außen aussah, bei der Berührung und enthüllte die Tatsache, daß die Gestalt nichts als ein Häufchen Staub war. Dies kam, wie Ayesha mir erklärte, daher, daß man diese Toten, sei es aus Eile oder anderen Gründen, lediglich in die konservierende Flüssigkeit[15] getaucht hatte, statt ihnen diese zu injizieren.
Ein Wort jedoch noch über das letzte Grab, das wir besichtigten, denn sein Inhalt rührte noch stärker ans Herz als der des ersten. Es hatte nur zwei Bewohner, die zusammen auf einer Bank lagen. Als ich die Grabtücher entfernte, fiel mein Blick auf einen jungen Mann und ein blühendes Mädchen, die sich in enger Umarmung aneinander schmiegten. Ihr Kopf ruhte auf seinem Arm, und seine Lippen waren an ihre Stirn gepreßt. Ich öffnete das leinene Gewand des Mannes und entdeckte über seinem Herzen eine Dolchwunde, und eine gleiche befand sich unter der schönen Brust des Mädchens, aus der ihr Lebensblut verströmt war. Auf der Felswand über ihnen stand eine Inschrift von nur drei Worten. Ayesha übersetzte sie. Sie lautete: Im Tode vereint.
Was mochte die Geschichte dieser beiden gewesen sein, die, wahrhaft schön im Leben, der Tod nicht hatte trennen können?
Ich schloß die Augen, und die Phantasie nahm den Gedankenfaden auf, spann ihn zurück durch die Jahrhunderte und webte vor ihrem dunklen Hintergrund ein Bild, das in allen Einzelheiten so lebensvoll erschien, daß ich einen Augenblick fast vermeinte, ich hätte über die Vergangenheit triumphiert und mit meinem geistigen Auge das Geheimnis der Zeit durchdrungen.
Mir war, als sähe ich dies schöne Mädchen lebend vor mir - ihr blondes Haar floß schimmernd über ihr schneeweißes Gewand hernieder, und ihr Busen war noch weißer als dieses, so daß vor seinem Glanz sogar die Geschmeide aus schimmerndem Gold verblaßten. Die große Höhle schien gefüllt mit Kriegern, bärtig und in glänzender Rüstung, und auf der Erhebung, wo Ayesha Gericht gehalten hatte, stand ein feierlich gewandeter Mann, umgeben von den Symbolen seines Priesteramtes. Und durch die Höhle schritt ein Mann, gehüllt in Purpur, umgeben von Sängern und schönen Mädchen, die ein Hochzeitslied anstimmten. Weiß stand das Mädchen vor dem Altar, schöner als die Schönsten, reiner als eine Lilie und kälter als der Tau, der in ihrem Herzen funkelte. Doch als der Mann sich ihr näherte, überlief sie ein Schauder. Da plötzlich sprang aus dem Gedränge ein dunkelhaariger Jüngling hervor und legte seinen Arm um die langvergessene Geliebte und küßte ihr bleiches Antlitz, in welches das Blut schoß wie die roten Strahlen der scheidenden Sonne übers stille Firmament. Aufruhr und Lärm erhoben sich, Schwerter blitzten, man entriß den Jüngling ihren Armen und erstach ihn, doch mit einem Schrei riß sie den Dolch aus seinem Gürtel, stieß ihn sich bis tief ins Herz durch die schneeweiße Brust und sank zu Boden, und dann entschwand mit lautem Wehgeschrei der Festzug meinem Blick, und die Vergangenheit hatte wiederum ihr Buch geschlossen.
Der Leser möge mir die Einflechtung eines Traumes in die wahre Geschichte verzeihen. Doch er überfiel mich so plötzlich, ich sah dies alles in einem Augenblick so deutlich, daß es mir wie Wirklichkeit schien; und überdies - wer vermag zu sagen, wieviel Wirklichkeit aus Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft die Phantasie heraufbeschwören kann? Was ist Phantasie? Vielleicht der Schatten unantastbarer Wahrheit, vielleicht das Denken der Seele.
Binnen eines kurzen Moments war diese ganze Szene an meinem geistigen Auge vorübergezogen, und Ayesha sprach mich an.
»Das ist des Menschen Los«, sagte die verschleierte Ayesha, indem sie die Leichentücher wieder über die toten Liebenden breitete, mit feierlicher Stimme, die mit einem Traum im Einklang stand: »Ins Grab und ins Vergessen, welches das Grab umhüllt, müssen einst wir alle! Ja, selbst ich, die ich so lange lebe. Selbst mir, o Holly, wird in aber Tausenden von Jahren, Tausende von Jahren, nachdem du das Tor durchschritten hast und im Nebel entschwunden bist, ein Tag dämmern, an dem ich sterben und sein werde wie du und diese hier. Was wird es dann schon besagen, daß ich ein wenig länger gelebt und den Tod durch mein der Natur entrungenes Wissen abgewendet habe, wenn schließlich auch ich sterben muß? Was ist schon eine Spanne von zehntausend oder zehnmal zehntausend Jahren im Zeitenlauf? Ein Nichts - gleich dem Nebel, der vor der Sonne schwindet; vergänglich wie eine Stunde Schlaf, ein Hauch des Ewigen Geistes. Das ist des Menschen Los! Mit Gewißheit wird es uns ereilen, und wir werden schlafen. Doch ebenso gewiß werden wir erwachen und wieder leben und wieder schlafen, und so geht es fort durch alle Zeiten, von Äone zu Äone, bis die Welt stirbt und alle Welten jenseits der Welt sterben und nichts mehr lebt als der Geist, der das Leben ist. Doch wird für uns beide und für diese Toten hier das Ende des Endes Leben sein oder Tod? Bis jetzt ist der Tod nur die Nacht des Lebens, doch aus der Nacht wird der Morgen neu geboren, und ihm folgt wiederum die Nacht. Aber wenn Leben und Tod, Tag und Nacht enden und eingehen in das, woraus sie kamen - was wird dann unser Los sein, o Holly? Wer kann so weit schauen? Nicht einmal ich!«
15
Ayesha zeigte mir später den Baum, aus dessen Blättern dieses uralte Konservierungsmittel gewonnen wurde. Es ist ein niedriger, strauchartiger Baum, der auch heute noch üppig auf den Abhängen der Berge wächst. Die Blätter sind lang, schmal und von hellem Grün, das sich jedoch im Herbst hellrot färbt, und sie ähneln im Aussehen Lorbeerblättern. Sie riechen in grünem Zustand fast gar nicht, verströmen jedoch, wenn man sie kocht, einen fast unerträglich starken aromatischen Duft. Die beste Essenz indes liefern die Wurzeln, und bei dem Volk von Kor gab es ein auf einigen, mir von Ayesha gezeigten Inschriften erwähntes Gesetz, demzufolge unter Androhung schwerer Strafen niemand unter einem bestimmten Rang mit der aus diesen Wurzeln gewonnenen Essenz einbalsamiert werden durfte. Zweck dieses Gesetzes war es, die Bäume vor Ausrottung zu schützen. Der Verkauf der Blätter und Wurzeln war ein Regierungsmonopol, das den Königen von Kor einen großen Teil ihres Privateinkommens einbrachte. -