Ich erhob mich und sank auf die Kissen neben ihr, noch immer zitternd vor Erregung, obwohl die tolle Leidenschaft mich für einen Augenblick verlassen hatte - wie die Blätter eines Baumes noch immer zittern, wenn der Sturm vorüber ist. Ich wagte nicht, ihr zu sagen, daß ich sie in jener unheimlichen, höllischen Laune, Beschwörungen über dem Feuer in dem Grab murmelnd, gesehen hatte.
»So«, fuhr sie fort, »iß jetzt ein wenig Obst; glaube mir, es ist die einzig richtige Nahrung für den Menschen. Oh, erzähle mir von der Philosophie dieses hebräischen Messias, der nach mir kam und der, wie du sagst, heute Rom und Griechenland und Ägypten und auch die Barbarenvölker regiert. Er muß eine seltsame Philosophie haben, denn zu meiner Zeit wollten die Völker nichts von unseren Philosophien wissen. Schwelgerei und Sinnenlust und Zechen, Blut und kalter Stahl und Schlachtgetümmel waren ihre Glaubenssätze.«
Ich hatte mich indessen ein wenig erholt und, meiner Schwäche mich zutiefst schämend, tat ich mein Bestes, ihr die Lehren des Christentums zu erklären, doch merkte ich, daß sie ihnen mit einer Ausnahme -unserer Auffassung von Himmel und Hölle - nur wenig Aufmerksamkeit schenkte und ihr ganzes Interesse auf den Mann richtete, der sie verkündete. Ich erzählte ihr auch, daß in ihrem eigenen Volke, den Arabern, ein Prophet, Mohammed, erstanden war und einen neuen Glauben gepredigt hatte, dem nun viele Millionen Menschen anhingen.
»Ah!« rief sie; »sieh an - zwei neue Religionen! Wie viele habe ich gekannt, und sicherlich hat es noch viel mehr gegeben, seit ich in diesen Höhlen weile. Immer wieder suchen die Menschen zu ergründen, was hinter den Himmeln ist. Der Ursprung aller Religionen ist der gleiche - Angst vor dem Ende und eine verhüllte Form von Ichsucht. Merke dir, mein Holly, jede Religion verheißt ihren Anhängern, oder zumindest den Guten unter ihnen, die Zukunft. Der Ungläubigen, die nichts von ihr wissen wollen und welche das Licht, das die Gläubigen anbeten, nur undeutlich sehen, wie die Fische die Sterne, harrt das Böse. Religionen kommen und gehen, und Kulturen kommen und gehen, und nichts hat Bestand als die Welt und die menschliche Natur. Ach! käme doch der Mensch zur Einsicht, daß die Hoffnung von innen und nicht von außen kommt - daß nur er selbst sich erlösen kann! In ihm ist der Hauch des Lebens und das Wissen um Gut und Böse. Möge er doch darauf bauen und sich stützen und nicht sich niederwerfen vor dem Bildnis eines unbekannten Gottes, der nach seinem armseligen Ich geformt ist, doch mit einem größeren Gehirn, das Böse zu denken, und mit einem längeren Arm, es zu tun.«
Ich dachte bei mir, daß ihre Argumente ganz ähnlich klangen wie einige andere, die ich im neuzehnten Jahrhundert und an anderen Orten als den Höhlen von Kor vernommen hatte und welche ich, nebenbei bemerkt, gänzlich verwerfe, doch mir stand nicht der Sinn danach, mit ihr über diese Fragen zu diskutieren. Mein Geist war viel zu erschöpft von all der Aufregung, die ich durchgemacht hatte, und überdies wußte ich, daß ich den kürzeren ziehen würde. Es ist schon mühsam genug, mit einem gewöhnlichen Materialisten zu streiten, der einem statistische Daten und ganze Haufen geologischer Tatsachen an den Kopf wirft, während man nur mit Deduktionen und Ahnungen und den Schneeflocken des Glaubens parieren kann, die leider in der heißen Glut solcher Scharmützel allzu leicht schmelzen. Wie wenig konnte ich also erst gegen ein Wesen ausrichten, des-sen Geist übernatürlich scharf war, das über eine zweitausendjährige Erfahrung verfügte und um alle Geheimnisse der Natur wußte! Ich hatte das Gefühl, daß eher sie mich bekehren würde als ich sie, und so hielt ich es für das beste, die Sache auf sich beruhen zu lassen und zu schweigen. Wie oft habe ich seither bitter bedauert, daß ich dies tat, denn ich versäumte so die einzige sich mir bietende Gelegenheit, Ayeshas wahren Glauben und ihre >Philosophie< kennenzulernen.
»So, mein Holly«, fuhr sie fort, »mein Volk hat also auch einen Propheten gefunden, einen falschen Propheten, wie du sagst, denn er ist nicht der deine, und in der Tat, ich bezweifle es nicht. Doch zu meiner Zeit war es anders, damals hatten wir Araber viele Götter. Da gab es Allat und Saba, den Herrn des Himmels, Al Uzza und Manah, den Steinernen, für den das Opferblut floß; und Wadd und Sawa und Jaghüth, den Löwen der Bewohner von Jemen; Yäük, das Pferd von Morath, und Nasr, den Adler von Hamyar und viele andere. Oh, überall diese Torheit, diese Schande und jämmerliche Torheit! Doch als die Weisheit in mir wuchs und ich von ihr sprach, da wollten sie mich im Namen ihrer erzürnten Götter erschlagen. Nun ja, so ist es stets gewesen; aber, mein Holly, bist du meiner vielleicht bereits müde, daß du so schweigsam dasitzest? Oder fürchtest du, ich könnte dich meine Philosophie lehren? - Denn glaube mir, ich habe eine Philosophie! Was wäre ein Lehrer ohne seine eigene Philosophie?
Und falls du mich ärgerst, hüte dich um so mehr, denn dann werde ich sie dich lehren; du sollst mein Schüler sein, und wir beide werden einen neuen Glauben gründen, der alle anderen verdrängt. Treuloser, du! Vor einer halben Stunde erst lagst du vor mir auf den Knien - eine Haltung, die dir gar nicht gut ansteht, Holly - und schworst, mich zu lieben. Was wollen wir nun tun? - Halt, ich hab's. Ich werde kommen und nach diesem Jüngling, dem Löwen, sehen, wie der alte Billali ihn zu nennen pflegt, nach ihm, der so krank ist. Das Fieber muß ihn indessen verlassen haben, doch wenn er im Sterben liegt, so werde ich ihn heilen. Keine Angst, mein Holly, ich werde keine Magie anwenden.
Sagte ich dir nicht, daß es keine Magie gibt, sondern nur Verstehen und das Wissen, die Kräfte der Natur anzuwenden? Gehe jetzt, und sobald ich die Medizin bereitet habe, werde ich dir folgen[16].«
So ging ich denn und traf Job und Ustane in größter Sorge an. Sie erklärten mir, daß Leo in den letzten Zügen liege und daß sie überall nach mir gesucht hätten. Ich eilte an Leos Lager und warf einen Blick auf ihn - kein Zweifel, er lag im Sterben. Er war bewußtlos und sein Atem ging schwer, doch seine Lippen zuckten, und hin und wieder durchlief ein Schauder seinen Körper. Ich verstand genug von der ärztlichen Kunst, um zu sehen, daß es in einer: Stunde keine menschliche Hilfe mehr für ihn geben würde - vielleicht sogar schon in den nächsten fünf Minuten! Wie verwünschte ich meine Selbstsucht und Tor- heit, die mich an Ayeshas Seite hatte verweilen lassen, während mein lieber Junge mit dem Tode rang! Ach, wie leicht kann doch der Glanz von Weiberaugen selbst die Besten unter uns auf den Pfad des Bösen führen! Was für ein jämmerlicher Wicht war ich doch! Ich hatte in der Tat während der letzten halben Stunde Leos kaum gedacht, jenes Menschen - man bedenke! -, der seit zwanzig Jahren mein treuester Gefährte, der Mittelpunkt meines Daseins gewesen. Und nun war es vielleicht zu spät!
Die Hände ringend, blickte ich um mich. Ustane saß neben dem Lager, und in ihren Augen glomm düstere Verzweiflung. Job hockte gotterbärmlich schluchzend in der Ecke. Als er meinen Blick auf sich ruhen fühlte, ging er hinaus, um sich auf dem Gang seinem Kummer hinzugeben. Die einzige Hoffnung lag offensichtlich in Ayesha. Sie, nur sie allein konnte ihn retten - es sei denn, sie war eine Betrügerin, was ich indes nicht glauben konnte. Ich beschloß, zu ihr zu eilen und sie zu beschwören, sofort zu kommen. Als ich mich dazu anschickte, stürzte jedoch Job mit buchstäblich in die Höhe gesträubten Haaren in die Kammer.
16
Ayesha war eine große Chemikerin, und die Chemie scheint ihre einzige und liebste Beschäftigung gewesen zu sein. Sie hatte eine der Höhlen als Laboratorium eingerichtet und erzielte trotz ihrer naturgemäß recht primitiven Geräte, wie man im Verlauf dieser Erzählung noch sehen wird, erstaunliche Resultate. -