»O Gott steh uns bei, Sir!« stieß er ängstlich flüsternd hervor, »ein Leichnam kommt durch den Gang geschritten!«
Einen Augenblick war ich verdutzt, doch dann fiel mir ein, daß er Ayesha gesehen haben mußte; in ihrem leichentuchähnlichen Gewand und infolge ihres seltsamen, schwebenden Ganges hatte er sie wohl für einen Geist gehalten. Im gleichen Augenblick löste sich auch schon die Frage, denn Ayesha trat ein. Job wandte sich um, sah ihre verhüllte Gestalt, sprang mit dem Entsetzensschrei »Da kommt es!« in die Ecke und drückte sein Gesicht an die Wand, während Ustane sogleich erriet, wer vor ihr stand, und sich der Länge nach zu Boden warf.
»Du kommst gerade noch zur rechten Zeit, Ayesha«, sagte ich, »denn mein Junge liegt im Sterben.«
»So«, erwiderte sie leise. »Wenn er noch nicht tot ist, ist es nicht zu spät, denn ich kann ihn ins Leben zurückrufen, mein Holly. Ist jener Mann dort dein Diener, und pflegen auf diese Weise in deinem Lande Diener Fremde zu begrüßen?«
»Er fürchtet sich vor deinem Gewand - es ähnelt einem Totenhemd«, erwiderte ich. Sie lachte.
»Und das Mädchen? Ach ja, ich weiß. Sie ist es, von der du mir erzählt hast. Nun, befiehl beiden, uns zu verlassen, und dann will ich nach deinem kranken Löwen sehen. Ich möchte nicht, daß Untergebene Zeugen meiner Weisheit werden.«
Ich gebot Ustane auf arabisch und Job auf englisch, die Kammer zu verlassen; ein Befehl, den der letztere nur allzu gern und schnell befolgte, denn er konnte seine Furcht nicht bezwingen. Anders jedoch Ustane.
»Was will >Sie<?« flüsterte sie, zwischen ihrer Angst vor der schrecklichen Königin und ihrem Verlangen, bei Leo zu bleiben, hin und her gerissen. »Hat ein Weib nicht das Recht, bei seinem Gatten zu sein, wenn er stirbt? Nein, ich gehe nicht, mein Herr, der Pavian.«
»Warum verläßt uns diese Frau nicht, mein Holly?« rief Ayesha vom anderen Ende der Höhle, wo sie flüchtig einige Skulpturen an der Wand betrachtete.
»Sie will Leo nicht verlassen«, antwortete ich, da mir nichts anderes einfiel. Ayesha fuhr herum, deutete mit der Hand auf das Mädchen und sagte ein einziges Wort, welches jedoch genügte, denn der Ton, in dem sie es hervorstieß, sprach Bände.
»Geh!«
Da kroch Ustane auf Händen und Füßen an ihr vorbei zur Kammer hinaus.
»Siehst du, mein Holly«, sagte Ayesha leise lachend, »es war nötig, daß ich diesen Menschen eine Lektion in Gehorsam erteilte. Dieses Mädchen hätte sich mir beinahe widersetzt, aber sie hat wohl heute morgen nicht gesehen, wie ich die Ungehorsamen bestrafe. Nun, sie ist fort; jetzt will ich nach dem Kranken sehen«, und sie trat an das Lager, auf dem Leo ruhte, das Gesicht im Schatten und der Wand zugedreht.
»Welch stattlicher Jüngling«, sagte sie, als sie sich über ihn beugte, um sein Gesicht zu betrachten.
In der nächsten Sekunde taumelte ihre schlanke, biegsame Gestalt durch die Kammer zurück, als hätte ein Schuß oder ein Dolchstoß sie getroffen, und dann entrang sich ihren Lippen der entsetzlichste, unheimlichste Schrei, den ich in meinem ganzen Leben hörte.
»Was ist dir, Ayesha?« rief ich. »Ist er tot?«
Sie wandte sich um und sprang auf mich zu wie eine Tigerin.
»Du Hund!« sagte sie in ihrem schrecklichen Flüstern, das wie das Zischen einer Schlange klang, »warum hast du mir das verschwiegen?« Ich dachte, sie wolle mich erschlagen.
»Was?« stieß ich zutiefst erschrocken hervor, »was?«
»Ach!« sagte sie, »vielleicht hast du es nicht gewußt. Höre, mein Holly, höre: dort liegt - dort liegt mein verlorener Kallikrates. Kallikrates ist endlich zu mir zurückgekehrt - ich wußte es ja, ich wußte es, daß er kommen wird!« und sie begann zu schluchzen und zu lachen und sich ganz wie jede andere außer sich geratene Dame aufzuführen, indem sie in einem fort »Kallikrates, Kallikrates!« murmelte.
>Unsinn<, dachte ich bei mir, wagte jedoch nicht, es zu sagen; in diesem Augenblick dachte ich nur an Leos Leben und vergaß in meiner schrecklichen Angst, er könnte sterben, während sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ, alles andere.
»Wenn du ihm nicht hilfst, Ayesha«, unterbrach ich sie, »wird dein Kallikrates dich bald nicht mehr hören können. Sieh doch, er stirbt schon.«
»Richtig«, sagte sie zusammenzuckend. »Oh, warum kam ich nicht früher? Ich bin so verwirrt - meine Hand zittert - und doch ist es so leicht. Hier, Holly, nimm diese Phiole«, und sie zog eine kleine Tonflasche aus den Falten ihres Gewandes, »und schütte ihm die Flüssigkeit in den Mund. Sie wird ihn heilen, wenn er noch nicht tot ist. Rasch jetzt! Rasch! Er stirbt!«
Ich warf einen Blick auf ihn; es stimmte, Leo lag im Todeskampf. Sein armes Gesicht färbte sich aschfahl, und ein Röcheln drang aus seiner Kehle. Die Phiole war mit einem kleinen Stück Holz verschlossen. Ich zog es mit den Zähnen heraus, und ein kleiner Tropfen der Flüssigkeit netzte meine Zunge. Sie schmeckte süß, und eine Sekunde lang wurde ich schwindlig und ein Nebel braute sich vor meinen Augen zusammen, doch zum Glück ging dies so schnell vorüber, wie es gekommen war.
Als ich Leos Lager erreichte, lag er in den letzten Zügen - sein goldgelockter Kopf bewegte sich langsam hin und her, und sein Mund stand ein wenig offen. Ich bat Ayesha, seinen Kopf zu halten, und sie tat es, obwohl sie von Kopf bis Fuß zitterte wie Espenlaub. Dann goß ich ihm, seinen Mund ein wenig weiter öffnend, den Inhalt der Phiole hinein. Ein schwacher Dampf stieg auf, wie wenn man eine Flasche mit Salpetersäure öffnet, und dieser Anblick stärkte nicht gerade meine ohnedies zage Hoffnung auf einen Erfolg dieser Behandlung.
Eins jedoch war gewiß: der Todeskampf hörte auf -zuerst dachte ich, es sei aus mit ihm und er habe den dunklen Fluß überschritten. Sein Gesicht wurde leichenblaß, und das Schlagen seines Herzens, das ohnedies schon ganz schwach gewesen war, schien gänzlich aufzuhören - nur die Augenlider zuckten noch ein wenig. Zweifelnd blickte ich zu Ayesha auf, deren Kopfschleier, als sie erschrocken zurücktaumelte, herabgerutscht war. Sie hielt noch immer Leos Kopf und betrachtete, ebenso bleich wie er, sein Gesicht mit einem Ausdruck unsäglicher Todesangst, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Anscheinend wußte auch sie nicht, ob er am Leben bleiben oder sterben würde. Langsam vergingen fünf Minuten, und ich sah, daß sie die Hoffnung aufgab; ihr schönes ovales Gesicht schien einzufallen und sichtlich schmäler zu werden unter ihrer Seelenqual, die schwarze Schatten um ihre Augen zeichnete. Das Korallenrot ihrer Lippen verblich, bis sie weiß waren wie Leos Gesicht und kläglich zuckten. Ihr Anblick war herzzerreißend, und trotz meines eigenen Kummers empfand ich für sie Mitleid.
»Ist es zu spät?« keuchte ich.
Ohne zu antworten, verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, und auch ich wandte mich ab. Doch während ich dies tat, hörte ich einen langgezogenen Seufzer, und als ich niederblickte, sah ich, wie Röte Leos Gesicht überhauchte. Wieder seufzte er, und dann -Wunder über Wunder - drehte sich der Mann, den wir für tot gehalten hatten, auf die Seite.
»Sieh doch«, flüsterte ich.
»Ich sehe«, erwiderte sie heiser. »Er ist gerettet. Ich dachte schon, es sei zu spät - noch einen Augenblick - einen kleinen Augenblick -, und er wäre tot gewesen!« Ein schrecklicher Weinkrampf überkam sie, und sie schluchzte, als wollte ihr das Herz brechen, wobei sie schöner aussah denn je zuvor. Endlich kam sie zu sich.
»Verzeih mir, o Holly - vergib mir meine Schwäche«, sagte sie. »Wie du siehst, bin ich trotz allem nur ein Weib. Stelle dir das nur vor! Erst heute morgen sprachst du von diesem Marterplatz deiner neuen Religion. Hölle oder Hades nanntest du ihn - einen Ort, wo die Seele weiterlebt, eingedenk der Vergangenheit, wo all die Irrtümer und Fehler und unbefriedigten Leidenschaften und Schrecken, die sie je erfüllten, das Herz für immer und ewig peinigen und quälen ohne einen Hoffnungsschimmer. So, genau so, habe ich zweitausend Jahre lang gelebt - an die Sechsundsechzig Generationen nach eurer Zeitrechnung - in einer Hölle, wie du sagtest - gequält von der Erinnerung an ein Verbrechen, Tag und Nacht gepeinigt von einem ungestillten Verlangen - ohne Gefährten, ohne Trost, unsterblich, geleitet nur auf meinem dunklen Pfad von den Irrlichtern der Hoffnung, die mich, bald aufflackernd, bald verlöschend, wie meine Kunst mir sagte, dereinst zu meinem Retter führen würden.