Es schien mir hoffnungslos, solcher Kasuistik zu widersprechen, die, bis zu ihrem logischen Ende fortgeführt, jegliche Moral, wie wir sie verstehen, vernichten mußte. Doch ihre Worte erfüllten mich erneut mit Angst, denn was konnte man nicht alles erwarten von einem Wesen, das nicht nur ungehemmt von menschlichem Gesetz, sondern auch ohne jedes moralische Empfinden für Recht und Unrecht war, welches, so parteiisch und konventionell es auch sein mag, dennoch, wie unser Gewissen uns sagt, jenes große Fundament individueller Verantwortung bildet, die den Menschen vom Tier unterscheidet?
Ich war jedoch ehrlich bestrebt, Ustane, die ich schätzte und achtete, vor dem grausigen Geschick, das ihr aus der Hand ihrer mächtigen Rivalin drohte, zu bewahren, und so unternahm ich einen neuen Versuch.
»Ayesha«, sagte ich, »du bist für mich zu spitzfindig; doch du selbst sagtest mir, jeder Mensch solle sich selbst sein Gesetz errichten und dem Rufe seines Herzens folgen. Ist in deinem Herzen kein Mitleid für die, deren Platz du einnehmen möchtest? Bedenke doch: wie du sagst, ist - obwohl mir das Ganze unglaublich erscheint - der Mann, den du ersehntest, nach so langer Zeit zu dir zurückgekehrt, und soeben erst hast du ihn, wie du ebenfalls sagst, dem Rachen des Todes entrissen. Willst du seine Ankunft durch den Mord an dem Mädchen feiern, das ihn liebt und das vielleicht auch er liebt - eines Mädchens, das für dich sein Leben rettete, als deine Sklaven ihm mit ihren Speeren ein Ende bereiten wollten? Du sagtest auch, daß du vor langen Jahren diesem Mann bitter Unrecht tatest, daß du ihn mit deiner eigenen Hand erschlugst, weil er die Ägypterin Amenartas liebte.«
»Woher weißt du das, o Fremdling? Woher kennst du diesen Namen? Ich habe ihn dir nicht gesagt«, schrie sie auf und packte mich am Arm.
»Vielleicht habe ich es geträumt«, entgegnete ich; »in diesen. Höhlen von Kor hat man seltsame Träume. Doch dieser Traum scheint eine Spur Wahrheit zu enthalten. Was hat dieses tolle Verbrechen dir eingebracht? Zweitausend Jahre des Wartens, habe ich nicht recht? Und du willst das Ganze wiederholen? Sag, was du willst - ich bin überzeugt, es kann nur Böses daraus kommen; denn wer Gutes tut, erntet Gutes, und wer Böses tut, erntet Böses, wenn auch in späteren Zeiten aus dem Bösen Gutes kommen mag. Ärgernis muß sein; doch wehe dem, durch den das Ärgernis kommt. So sprach jener Messias, von dem ich dir erzählte, und er hat wahr gesprochen. Wenn du dieses unschuldige Weib erschlägst, so wirst du verflucht sein und von dem alten Baum deiner Liebe keine Frucht pflücken. Was denkst du nur? Glaubst du, dieser Mann wird dich nehmen, wenn du mit Händen, die mit dem Blute jener, die ihn liebte und pflegte, befleckt sind, vor ihn trittst?«
»Was das betrifft«, erwiderte sie, »so hast du meine Antwort bereits gehört. Selbst wenn ich dich wie sie erschlüge, würde er mich dennoch lieben, Holly, weil er sich davor ebensowenig retten könnte wie du dich vor dem Tode, wenn es mir einfiele, dich zu erschlagen, o Holly. Und doch mag ein wenig Wahrheit in deinen Worten liegen, denn irgendwie machen sie Eindruck auf mich. Wenn es sein kann, so will ich dieses Weib schonen - habe ich dir nicht gesagt, daß ich nicht um der Grausamkeit willen grausam bin? Ich liebe es nicht, Leid zu sehen oder es hervorzurufen. Hole sie her - rasch, bevor ich mich anders besinne«, und sie bedeckte hastig ihr Gesicht mit dem dünnen Schleier.
Befriedigt, wenigstens dies erreicht zu haben, eilte ich auf den Gang hinaus und rief Ustane, deren weißes Gewand ich einige Schritte von mir erblickte. Sie kauerte weinend unter einer der irdenen Lampen, die in bestimmten Abständen an der Wand des Ganges angebracht waren. Sogleich erhob sie sich und lief mir entgegen.
»Ist mein Gebieter tot? Oh, sage nur ja nicht, daß er tot ist!« rief sie, indem sie mit ihrem edelgeschnittenen und von Tränen überströmten Antlitz zu mir aufblickte und mich mit einem flehentlichen Blick ansah, der mir tief zu Herzen ging.
»Nein, er lebt«, erwiderte ich. »>Sie< hat ihn gerettet. Tritt ein.«
Tief seufzend trat sie ein und fiel nach der Sitte der Amahagger vor der gefürchteten Herrscherin auf Hände und Knie.
»Steh auf«, sprach Ayesha mit eisiger Stimme, »und komme hierher.«
Ustane gehorchte und trat mit gesenktem Kopf vor sie hin.
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Ayesha, auf den schlafenden Leo deutend: »Wer ist dieser Mann?«
»Er ist mein Gatte«, erwiderte Ustane leise.
»Wer gab ihn dir zum Gatten?«
»Ich nahm ihn gemäß dem Brauch unseres Landes.«
»Es war unrecht von dir, Weib, diesen Mann zu nehmen, der ein Fremdling ist. Er ist kein Mann deines Volkes, und deshalb gilt der Brauch nicht. Höre mich an: Mag sein, daß du dies aus Unwissenheit getan hast, und so werde ich dich schonen, anderenfalls wärest du des Todes gewesen. Höre weiter. Gehe fort von hier und zurück zu deinem Haushalt, und wage es nicht, mit diesem Mann je wieder zu sprechen oder deinen Blick auf ihn zu richten. Er ist nicht für dich. Höre, was ich dir als drittes zu sagen habe. Sowie du dieses mein Gesetz brichst, mußt du sterben. Hinweg!«
Doch Ustane rührte sich nicht.
»Hinweg mit dir, Weib!«
Da blickte sie auf, und ich sah, daß ihr Gesicht von Leidenschaft verzerrt war.
»Nein, o Herrscherin, ich gehe nicht«, antwortete sie mit erstickter Stimme, »dieser Mann ist mein Gatte, und ich liebe ihn - ich liebe ihn und will ihn nicht verlassen. Mit welchem Recht befiehlst du mir, meinen Gatten zu verlassen?«
Ich sah, wie ein Schauder Ayesha überlief, und auch ich erschauderte, das Schlimmste befürchtend.
»Sei gnädig«, sagte ich auf lateinisch, »sie spricht ja nur, was ihr das Herz eingibt.«
»Ich bin gnädig«, erwiderte sie kalt in derselben Sprache. »Wäre ich nicht gnädig, so würde sie bereits tot sein.« Und dann zu Ustane gewandt: »Weib, ich sage dir, gehe, bevor ich dich auf der Stelle zerschmettere!«
»Ich gehe nicht! Er ist mein!« rief Ustane in höchster Verzweiflung. »Ich nahm ihn und rettete ihm das Leben! Zerschmettere mich denn, wenn es in deiner Macht steht! Ich gebe dir meinen Gatten nicht - niemals - niemals!«
Ayesha machte eine so rasche Bewegung, daß ich ihr kaum folgen konnte, doch es schien mir, als habe sie das arme Mädchen leicht mit der Hand auf den Kopf geschlagen. Ich starrte Ustane an und taumelte dann entsetzt zurück, denn auf ihrem Haar, mitten auf den bronzenen Flechten, sah ich drei Fingerspuren, weiß wie Schnee. Das Mädchen hatte seine Hände an den Kopf gelegt und blickte wie betäubt drein.
»Großer Gott!« rief ich, zutiefst bestürzt über diesen furchtbaren Beweis einer unmenschlichen Macht, doch >Sie< lachte nur leise.
»Denkst du, arme unwissende Närrin«, sagte sie zu dem verwirrten Mädchen, »ich hätte nicht die Macht, dich zu töten? Dort liegt ein Spiegel«, und sie deutete auf Leos runden Rasierspiegel, den Job zusammen mit anderen Dingen auf seinen Koffer gelegt hatte; »gib ihn diesem Weib, mein Holly, damit sie das Zeichen auf ihrem Haar sieht und weiß, ob ich die Macht habe zu töten oder nicht.«
Ich nahm den Spiegel und hielt ihn Ustane vor die
Augen. Sie blickte hinein, griff nach ihrem Haar, blickte wieder hinein und sank plötzlich schluchzend zu Boden.
»Nun, willst du jetzt gehen, oder muß ich dich ein zweites Mal zeichnen?« fragte Ayesha spöttisch. »Siehe, ich habe dir mein Siegel aufgeprägt, damit ich dich wiedererkenne, bis dein ganzes Haar so weiß ist. Sollte ich dich noch einmal hier sehen, so sei gewiß, daß deine Knochen bald weißer sein werden als mein Zeichen auf deinem Haar.«
Völlig gebrochen richtete das arme Geschöpf sich auf und kroch bitterlich schluchzend, gezeichnet mit diesem schrecklichen Mal, hinaus.
»Blicke nicht so entsetzt drein, mein Holly«, sagte Ayesha, als sie fort war. »Ich sagte dir doch, ich befasse mich nicht mit Magie - dergleichen gibt es gar nicht. Es handelt sich nur um eine Kraft, die du nicht verstehst. Ich zeichnete sie, um sie zu schrecken; sonst hätte ich sie töten müssen. Und nun will ich meine Diener anweisen, meinen Herrn Kallikrates in eine Kammer neben der meinen zu bringen, damit ich über ihn wachen und ihn begrüßen kann, wenn er erwacht; und auch du, mein Holly, sollst dorthin kommen mit dem weißen Mann, deinem Diener. Hüte dich aber, eines zu vergessen. Du darfst Kallikrates nicht sagen, wie dieses Weib von hier fortging, und auch von mir sollst du so wenig wie möglich sprechen. Ich habe dich gewarnt!« - und sie eilte hinaus, ihre Befehle zu erteilen, und ließ mich tiefer bestürzt denn je zurück. Ich war in der Tat so verwirrt und von meinen Gefühlen derart hin und her gerissen, daß ich fast fürchtete, den Verstand zu verlieren. Zum Glück blieb mir jedoch wenig Zeit zum Nachdenken, denn gleich darauf erschienen die Stummen, um den schlafenden Leo und unsere Habseligkeiten zu dem anderen Gang jenseits der Haupthöhle zu tragen, wo unmittelbar hinter dem Raum, den ich Ayeshas Boudoir nennen möchte, unsere neuen Wohnräume lagen. Wo sich Ayeshas Schlafgemach befand, wußte ich damals noch nicht, doch mußte es ganz in der Nähe sein.