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Ich verbrachte jene Nacht in Leos Zimmer, doch er schlief tief wie ein Toter und rührte sich kein einziges Mal. Auch ich schlief recht gut, was mir wirklich sehr not tat, doch mein Schlaf war voller Träume von den Schrecken und Wundern, die ich erlebt hatte. Vor allem verfolgte mich das Teufelsstück, mit dem Ayesha die Spuren ihrer Finger auf dem Haar ihrer Rivalin hinterlassen hatte. An ihrer raschen, schlangenhaften Bewegung und dem sofortigen Erbleichen des Haares an drei Stellen war etwas so Schreckliches, daß ich wohl kaum tiefer beeindruckt gewesen wäre, wenn das Ganze für Ustane noch schlimmere Folgen gehabt hätte. Bis zum heutigen Tage träume ich oft von dieser grauenvollen Szene und sehe vor mir, wie das weinende, gleich Kain gezeichnete Weib, einen letzten Blick auf ihren Geliebten werfend, vor ihrer furchtbaren Königin davonkriecht.

Ein anderer Traum, der mich in jener Nacht quälte, hatte seinen Ursprung in der riesigen Knochenpyramide. Ich träumte, daß all die Skelette sich erhoben und an mir vorbeimarschierten - zu Tausenden und aber Tausenden, in Schwadronen, Kompanien und Armeen -, wobei durch ihre hohlen Rippen das Sonnenlicht schien. Vorwärts stürmten sie über die Ebene dem kaiserlichen Kor entgegen; ich sah die Zugbrük-ken vor ihnen niedergehen und hörte ihre Knochen klappernd durch die ehernen Tore ziehen. Und weiter marschierten sie durch die prächtigen Straßen, vorbei an Brunnen und Palästen und Tempeln, wie sie keines Menschen Auge je sah. Doch kein Mann trat ihnen auf dem Marktplatz entgegen, sie zu begrüßen, kein Frauenantlitz zeigte sich hinter den Fenstern - nur eine körperlose Stimme eilte ihnen voraus und rief: »Gefallen ist das kaiserliche Kor! - gefallen!

- gefallen! - gefallen!« Und mitten durch die Stadt marschierten diese bleich schimmernden Phalangen, und das Rasseln ihrer Knochen erfüllte die tiefe Stille. Sie durchquerten die Stadt und erklommen die Mauer und zogen oben auf der Mauer weiter, bis sie erneut die Zugbrücke erreichten. Dann kehrten sie, die Sonne ging schon unter, zurück zu ihrer Gruft, und ihre leeren Augenhöhlen glühten in dem Licht, in welchem ihre Knochen riesige Schatten warfen, die wie gigantische Spinnenbeine über die Ebene krochen. Dann kamen sie zur Höhle und stürzten sich in endlosen Reihen einer nach dem anderen durch das Loch in die Beinschlucht, und ich erwachte schaudernd und sah >Sie<, die anscheinend zwischen meinem und Leos Lager gestanden hatte, wie einen Schatten aus dem Zimmer gleiten.

Bald darauf fiel ich in einen gesunden Schlaf, aus dem ich am Morgen erfrischt erwachte. Ich stand sogleich auf. Endlich nahte die Stunde, in der Leo laut Ayeshas Ankündigung erwachen sollte, und mit ihr erschien auch >Sie<, wie gewöhnlich verschleiert.

»Du wirst sehen, o Holly«, sagte sie, »gleich wird er mit klarem Kopf und ohne Fieber erwachen.«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da drehte Leo sich um, streckte seine Arme, gähnte und schlug die Augen auf, und als er bemerkte, daß eine weibliche Gestalt sich über ihn beugte, schlang er, anscheinend in dem Glauben, es sei Ustane, seine Arme um sie und küßte sie. Dann sagte er auf arabisch: »Hallo, Ustane, warum hast du denn den Kopf so verbunden? Hast du etwa Zahnschmerzen?«, und auf englisch fügte er hinzu: »Mein Gott, ich habe einen Riesenhunger. Sage einmal, Job, wo sind wir denn eigentlich?«

»Wenn ich das wüßte, Mr. Leo«, sagte Job und blickte dabei mißtrauisch auf Ayesha, vor der er immer noch tiefste Furcht empfand, denn offenbar war er sich nicht sicher, ob es sich nicht doch um ein Gespenst handelte; »doch Sie dürfen nicht sprechen, Mr. Leo, Sie sind sehr krank gewesen, und wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht. Vielleicht würde diese Dame jetzt so freundlich sein, ein wenig beiseite zu treten«, er sah Ayesha an, »dann bringe ich Ihnen Ihre Suppe.«

Dies lenkte Leos Aufmerksamkeit auf die >Dame<, die schweigend dastand. »Nanu!« sagte er, »das ist ja nicht Ustane - wo ist Ustane?«

Da sprach Ayesha ihn zum ersten Male an, und ihre ersten Worte waren ein Lüge. »Sie ist fortgegangen, um einen Besuch zu machen«, sagte sie, »und ich vertrete sie.«

Ayeshas silberhelle Stimme schien Leos halberwachten Verstand ebenso zu erstaunen wie ihr leichentuchähnliches Gewand. Er sagte jedoch nichts, sondern aß gierig seine Suppe, und dann drehte er sich um und schlief wieder bis zum Abend. Als er zum zweitenmal erwachte, fiel sein Blick auf mich, und er fragte mich, was geschehen sei, doch ich vertröstete ihn, so gut es ging, auf den nächsten Morgen, an dem er auf geradezu wunderbare Weise erholt erwachte. Nun erzählte ich ihm ein wenig von seiner Krankheit und meinen Erlebnissen, doch da Ayesha anwesend war, konnte ich ihm nichts weiter sagen, als daß sie die Königin dieses Landes und uns wohlgeneigt sei, und daß sie stets verschleiert gehe; denn obwohl ich natürlich englisch sprach, fürchtete ich, sie könnte von unseren Gesichtern ablesen, was wir sagten, und überdies gedachte ich ihrer Warnung.

Am nächsten Tag war Leo fast gänzlich wiederhergestellt und konnte aufstehen. Die Fleischwunde an seiner Seite war verheilt, und dank seiner freilich sehr kräftigen Konstitution hatte er die seinem schrecklichen Fieber folgende Erschöpfung mit einer Schnelligkeit abgeschüttelt, die sicherlich der Wirkung der geheimnisvollen Medizin, welche Ayesha ihm eingegeben hatte, zuzuschreiben war, und wohl auch dem Umstand, daß seine Krankheit zu kurz gedauert hatte, um ihn allzusehr zu entkräftigen. Mit seiner Gesundheit kehrte auch die Erinnerung an all seine Abenteuer bis zu dem Zeitpunkt zurück, da er in den Sümpfen die Besinnung verlor, und natürlich auch an Ustane, für die er, wie ich feststellte, eine starke Zuneigung empfand. Er bestürmte mich förmlich mit Fragen nach dem armen Mädchen, die zu beantworten ich nicht wagte, denn nach Leos erstem Erwachen hatte >Sie< mich zu sich befohlen und mich nochmals feierlich gewarnt, Leo irgend etwas von der Geschichte zu enthüllen, wobei sie mir zart andeutete, daß ich es sehr zu bereuen haben würde, wenn ich ihrem Wunsche zuwider handelte. Auch verbot sie mir zum zweitenmal, Leo mehr als unbedingt notwendig über ihre Person mitzuteilen; sie werde sich ihm zu gegebener Zeit selbst offenbaren.

Eine Wandlung ging mit ihr vor sich. Nach all meinen Erlebnissen hatte ich erwartet, sie werde die erste Gelegenheit nützen, den Mann, welchen sie für ihren einstigen Geliebten hielt, für sich zu beanspruchen, doch aus irgendeinem mir unbekannten Grund tat sie dies nicht. Sie sorgte lediglich ruhig und freundlich für ihn, richtete in einer Demut, die in krassem Gegensatz zu ihrem früheren herrischen Gebaren stand, das Wort an ihn und hielt sich so viel wie möglich in seiner Nähe auf. Natürlich reizte dieses rätselhafte Weib sehr seine Neugier, wie es bei mir der Fall gewesen war, und ganz besonders verlangte es ihn danach, ihr Gesicht zu sehen, von dem ich ihm, ohne auf Einzelheiten einzugehen, erzählt hatte, daß es ebenso schön sei wie ihre Gestalt und Stimme. Dies allein hätte wahrscheinlich genügt, die Erwartungen jedes jungen Mannes in einem gefährlichen Grad anzuspannen, und wäre er von seiner Krankheit nicht doch noch ein wenig erschöpft gewesen und hätte er sich nicht solche Sorgen um Ustane gemacht, von deren Zuneigung und tapferer Aufopferung er in bewegenden Worten sprach, so wäre er ihr zweifellos ins Garn gegangen und hätte sich rasch in sie verliebt. So jedoch war er überaus neugierig, zugleich jedoch gleich mir von tiefer Scheu erfüllt, denn obgleich Ayesha ihm gegenüber keinerlei Andeutung über ihr ungeheures Alter gemacht hatte, erkannte er doch in ihr das Weib, von dem auf der Tonscherbe die Rede war. Durch seine beständigen Fragen, mit denen er mich am dritten Morgen während des Ankleidens förmlich überschüttete, in die Enge getrieben, verwies ich ihn schließlich an Ayesha und sagte ihm wahrheitsgetreu, daß ich nicht wüßte, wo Ustane sei. So begaben wir uns denn, nachdem Leo ein herzhaftes Frühstück eingenommen hatte, zur Königin, welche ihre stummen Bedienten angewiesen hatte, uns jederzeit vorzulassen.