»Keine Ahnung«, erwiderte ich.
»Würdest du es für möglich halten, o Holly, daß dereinst ein Mann dieses luftige Nest zu seiner Behausung erkor und hier viele Jahre lebte? Daß er sie nur jeden zwölften Tag verließ, um die Nahrung, das Wasser und das Öl sich zu holen, das die Leute in reichlichem Maß brachten und als Opfergabe in den Eingang des Tunnels legten, durch den wir hierhergelangt sind?«
Wir blickten erstaunt auf, und sie fuhr fort: »Ja, so war es. Es war ein Mann, der sich Noot nannte, und obgleich er später als das Volk von Kor lebte, verfügte er doch über seine Weisheit. Ein Eremit war er und ein Philosoph, wohlvertraut mit den Rätseln der Natur; er war es, der das Feuer, welches ich euch zeigen will, entdeckte, das Feuer, in dem Blut und Leben der Natur sind und das dem, der darin badet und atmet, ein Leben spendet, das so lange währt, wie die Natur lebt. Doch gleich dir, o Holly, verschmähte es dieser Mann Noot, aus seinem Wissen Nutzen zu ziehen. >Vom Übel<, so sagte er, >ist das Leben für den Menschen, denn der Mensch wird geboren, um zu sterben.< Deshalb vertraute er sein Geheimnis niemandem an; deshalb wählte er diese Höhle als Be-hausung, an welcher die das Leben Suchenden vorüberkommen mußten, und die Amahagger jener Zeit verehrten ihn als Heiligen und Eremiten. Und als ich in dieses Land kam - weißt du, Kallikrates, wie ich hierherkam? Ich will es dir ein andermal erzählen, es ist eine seltsame Geschichte -, damals also hörte ich von diesem Philosophen. Ich wartete auf ihn, als er seine Nahrung holte, und begleitete ihn, obwohl ich große Furcht hatte, die Schlucht zu überschreiten, hierher. Dann betörte ich ihn mit meiner Schönheit und meinem Witz und durch schmeichlerische Worte, so daß er mich schließlich hinabführte und mir die Geheimnisse des Feuers anvertraute, doch erlaubte er mir nicht, darin zu baden, und aus Furcht, er könnte mich erschlagen, gehorchte ich, zumal ich sah, daß er schon sehr alt war und bald sterben würde. Ich kehrte zurück, nachdem ich alles, was er von dem wunderbaren Weltgeist wußte, erfahren hatte, und das war viel, denn der Mann war weise und uralt und hatte durch Reinheit, Enthaltsamkeit und Betrachtung seines unschuldigen Geistes den Schleier zwischen dem uns Sichtbaren und den großen unsichtbaren Wahrheiten, deren leiser Flügelschlag zuweilen durch die grobe Luft des Irdischen zu uns dringt, nahezu zerrissen. Dann, wenige Tage später, traf ich dich, mein Kallikrates, der du mit der schönen Ägypterin Amen-artas hierhergewandert warst, und ich lernte zum erstenmal, für immer und ewiglich, zu lieben, was mich bewog, mit dir an diesen Ort zu kommen und für dich und mich die Gabe des Lebens zu empfangen. So begaben wir uns gemeinsam mit der Ägypterin, die nicht von dir lassen wollte, hierher und entdeckten, daß der alte Noot gestorben war - wie es schien, noch gar nicht lange. Dort lag er, von seinem langen weißen Bart bedeckt«, und sie deutete auf eine Stelle neben mir, »doch sicherlich ist er indessen längst zu Staub zerfallen, und der Wind hat seine Asche fortgetragen.«
Ich streckte meine Hand aus und tastete im Staub herum, bis meine Finger plötzlich etwas berührten. Es war ein Menschenzahn, stark vergilbt, doch unversehrt. Ich hob ihn auf, zeigte ihn Ayesha. Lachend sagte sie:
»Ja, er ist ohne Zweifel von ihm. Siehe, was von Noot und von Noots Weisheit geblieben ist - ein kleiner Zahn! Das ganze Leben hätte er haben können und wollte es um seines Gewissens willen nicht. Dort lag er also, noch gar nicht lange tot, und wir stiegen dorthin hinab, wohin ich euch führen werde, und dann trat ich, all meinen Mut zusammennehmend und den Tod wagend, um die herrliche Krone des Lebens zu gewinnen, in die Flammen, und seht! Leben, wie ihr es niemals kennen werdet, bis auch ihr es fühlt, floß in mich, und ewig jung und schön über alle Maßen trat ich daraus hervor. Ich streckte meine Arme nach dir aus, Kallikrates, und bat dich, mich auf ewig zur Braut zu nehmen, doch du wandtest, als ich sprach, geblendet von meiner Schönheit, dich ab und legtest deine Arme um Amenartas' Hals. Da erfüllte mich wilder Zorn und raubte mir die Vernunft, und ich entriß dir deinen Speer und durchbohrte dich mit ihm, so daß du dort, vor meinen Füßen, am Ort des Lebens tot niedersankst. Ich wußte damals noch nicht, daß ich mit meinen Augen und der Kraft meines Willens töten kann, und erstach dich deshalb in meinem Zorn mit dem Speer.[23]
Ach, wie weinte ich, als du tot warst, daß ich die Gabe ewiger Jugend besaß. So sehr weinte ich dort am Ort des Lebens, daß mir sicherlich, wäre ich sterblich gewesen, das Herz gebrochen wäre. Und sie, die dunkelhäutige Ägypterin - sie verfluchte mich bei ihren Göttern. Bei Osiris verfluchte sie mich und bei Isis, bei Nephtys und bei Anubis, bei Sachmet, der Löwenhäuptigen, und bei Set; bei ihnen allen wünschte sie Böses auf mich herab, Böses und nie endende Einsamkeit. Ach, noch jetzt sehe ich ihr dunkles Gesicht wie eine Sturmwolke über mir dräuen, doch anhaben konnte sie mir nichts, und ich wußte nicht, ob ich sie vernichten konnte. Ich versuchte es nicht, mir lag damals nichts daran; und so trugen wir dich gemeinsam fort. Und später schickte ich sie - die Ägypterin -hinweg durch die Sümpfe, und es scheint, sie blieb am Leben und gebar einen Sohn und schrieb die Geschichte nieder, die dich, ihren Gemahl, zurückführte zu mir, ihrer Rivalin und deiner Mörderin.
Dies war die Geschichte, mein Geliebter, und jetzt ist die Stunde da, die sie krönen soll. Wie alles auf Erden, besteht sie aus Bösem und aus Gutem - vielleicht mehr aus Bösem als aus Gutem -, und sie ist in blutigen Lettern geschrieben. Es ist die Wahrheit; ich habe dir nichts verschwiegen, Kallikrates. Und nun noch eins vor dem Augenblick deiner Prüfung. Wir begeben uns hinab in des Todes Gegenwart, denn Leben und Tod sind enge Nachbarn, und wer weiß, ob nicht etwas geschehen wird, das uns wiederum für Ewigkeiten trennt? Ich bin nur ein Weib, keine Prophetin, welche die Zukunft lesen kann. Doch eines weiß ich - ich erfuhr es aus dem Munde des weisen Mannes Noot -: daß mein Leben nur verlängert und von stärkerem Glanz erfüllt ist. Doch ewig währt mein Leben nicht. Deshalb, o Kallikrates, sage mir, bevor wir gehen, daß du mir wahrhaftig verzeihst und mich von Herzen liebst. Siehe, Kallikrates: ich tat viel Böses - vielleicht war es böse, vor zwei Nächten das Mädchen, das dich liebte, zu töten -, doch sie widersetzte sich mir und erfüllte mich mit Zorn, indem sie mir Unglück prophezeite, und deshalb erschlug ich sie. Sieh dich vor, wenn auch du die Macht erhältst, daß du nicht gleichfalls voll Zorn und Eifersucht tötest, denn unbesiegbare Kraft ist eine gefährliche Waffe in eines irrenden Menschen Hand. Ja, ich habe gesündigt - gesündigt dank der Bitternis einer großen Liebe -, aber dennoch kann ich das Gute vom Bösen unterscheiden, und mein Herz ist nicht ganz verhärtet. Deine Liebe, Kallikrates, soll das Tor meiner Erlösung sein, so wie vor Zeiten meine Leidenschaft der Pfad war, der mich zum Bösen führte. Denn tiefe, nicht erhörte Liebe ist die Hölle edler Herzen und die Mitgift der Verdammten; Liebe jedoch, die noch reiner von der Seele des Erwählten widergespiegelt wird, verleiht uns Flügel, die über uns Selbst uns erheben und zu dem machen, was wir sein können. Darum, Kallikrates, reiche mir deine Hand und lüfte meinen Schleier so furchtlos, als sei ich nur ein Bauernmädchen und nicht die weiseste und schönste Frau auf dieser weiten Welt, und sieh mir in die Augen und sage mir, daß du mir von ganzem Herzen vergibst und daß du mich von ganzem Herzen liebst.«
Sie hielt inne, und die seltsame Zärtlichkeit ihrer Stimme schien uns wie ein Vermächtnis zu umschweben. Ihr Klang rührte mich noch mehr als ihre Worte, so menschlich war er - so tief weiblich. Auch Leo war seltsam angerührt. Bisher war er wider sein besseres Urteil von ihr bestrickt gewesen, so wie ein Vogel von einer Schlange, doch nun schien all dies von ihm abzufallen, und er erkannte, daß er dieses seltsame und prächtige Geschöpf wahrhaftig liebte, so wie, ach, ich es liebte. Ich sah, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und dann trat er rasch zu ihr, hob den dünnen Schleier, ergriff ihre Hand und sagte, tief ihr in die Augen blickend:
23
Der Leser wird sicherlich bemerken, daß Ayeshas Bericht von Amenartas' Darstellung auf der Tonscherbe abweicht. Dort hieß es: »Da tötete sie ihn in ihrem Zorn mit ihrer Zauberkraft.« Es ließ sich nie feststellen, welches die richtige Version ist, doch man erinnert sich, daß sich in Kallikrates Leiche eine Speerwunde befand, was für Ayeshas Darstellung zu sprechen scheint; es sei denn, sie wurde ihm nach dem Tode zugefügt. Auch ließ sich nicht ermitteln, wie die beiden Frauen - >Sie< und die Ägypterin Amenartas - imstande waren, den Leichnam des Mannes, den sie beide liebten, über die grauenhafte Schlucht und den zitternden Felssporn zu schaffen. Was für ein schreckliches Bild müssen die beiden in ihrem Kummer und in ihrer Schönheit geboten haben, als sie den Toten gemeinsam über diese grauenhafte Stätte schleppten! Vielleicht jedoch ließ sie sich damals leichter passieren. -