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Man erinnert sich, daß der Sturm Ayesha, als wir vor Überquerung der Schlucht auf dem Felssporn standen, den Mantel entriß und fort in den Abgrund wehte. Es ist so seltsam, daß ich es kaum zu erzählen wage, doch als wir dort auf dem schwankenden Stein lagen, kam aus dem schwarzen Nichts gleich einer Botschaft von der Toten eben dieser Mantel geflogen und fiel auf Leo nieder, ihn nahezu vom Kopf bis zu den Füßen bedeckend. Zuerst erkannten wir nicht, was es war, doch durch Betasten stellten wir es alsbald fest, und zum erstenmal verlor Leo die Beherrschung, und ich hörte ihn schluchzen. Offenbar hatte sich der Mantel an irgendeinem Felsvorsprung verfangen, und ein Windstoß hatte ihn zu uns geweht; aber dennoch war es höchst merkwürdig und beeindruckend.

Bald darauf durchstach ganz plötzlich der große rote Flammenspeer das Dunkel, streifte den schwankenden Stein, auf dem wir saßen, und berührte mit seiner glühenden Spitze den uns gegenüberliegenden Felssporn. »Auf«, sagte Leo, »jetzt oder nie.« Wir erhoben uns und blickten, uns streckend, auf die von dem Strahl blutrot gefärbten Nebelfetzen, welche durch den schwindelnden Abgrund fegten, und sodann auf die bodenlose Schlucht zwischen dem schwankenden Stein und dem zitternden Felssporn. Tiefe Verzweiflung packte uns, und wir wähnten uns dem Tod geweiht, denn dieser Sprung konnte nicht gelingen.

»Wer zuerst?« fragte ich.

»Du, alter Junge«, erwiderte Leo. »Ich will mich auf die andere Seite des Steines setzen, damit er besser aufliegt. Du mußt so weit wie möglich Anlauf nehmen und hoch springen. Möge Gott uns gnädig sein.«

Ich nickte zum Einverständnis und tat dann etwas, was ich seit Leos Kindheit nicht mehr getan hatte. Ich wandte mich um, legte meinen Arm um ihn und küßte ihn auf die Stirne. Es klingt vielleicht etwas pathetisch, doch schließlich nahm ich Abschied von jemandem, den ich nicht inniger hätte lieben können, wenn er mein eigener Sohn gewesen wäre.

»Lebwohl, mein Junge«, sagte ich. »Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen, wenn nicht in dieser, so in einer anderen Welt.«

Und in der Tat rechnete ich nicht damit, noch länger als zwei Minuten zu leben.

Darauf zog ich mich an den anderen Rand des Steins zurück, wartete, bis mich einer der scharfen Windstöße von hinten packte, rannte dann über den ganzen, etwa dreißig Fuß langen Stein und sprang mit aller Kraft in die wirbelnde Luft hinaus. Oh, welch grauenhafte Angst erfüllte mich, als ich auf die kleine Felsspitze zuflog, und welch entsetzliche Verzweiflung, als ich gewahr wurde, daß ich zu kurz gesprungen war! Doch so war es; meine Füße erreichten die Spitze nicht, nur meine Hände und mein Körper berührten sie. Mit einem Schrei griff ich danach, doch meine eine Hand glitt ab, und ich drehte mich, mit der anderen mich festklammernd, um mich selbst, so daß ich auf den Stein blickte, von dem ich abgesprungen war. Wild fuhr ich mit der linken Hand empor, und diesmal gelang es mir, eine Felszacke zu packen, und so hing ich nun in dem feurig roten Licht über der Tausende von Fuß tiefen Schlucht. Mit meinen Händen umklammerte ich den unteren Teil des Sporns, und mein Kopf berührte seine Spitze. Deshalb wäre es mir, selbst wenn ich die dazu nötige Kraft besessen hätte, nicht gelungen, mich hinaufzuschwingen. Ich konnte mich bestenfalls eine Minute lang so halten, dann würde ich hinunterstürzen, hinab in den bodenlosen Abgrund. Ich glaube nicht, daß eine grauenvollere Lage sich ausdenken läßt, und mir schwanden in der Qual dieser halben Minute fast die Sinne.

Ich hörte, wie Leo aufschrie, und dann sah ich ihn plötzlich einer Gemse gleich weit in die Luft hinausspringen. Es war ein prächtiger Sprung, der ihm in seiner Angst und Verzweiflung gelang. Die fürchterliche Schlucht wie nichts überfliegend, landete er sicher auf dem Felssporn und warf sich sogleich aufs Gesicht, um nicht in die Tiefe abzustürzen. Ich spürte, wie sein Aufprall den Sporn über mir erzittern ließ, und zugleich sah ich, wie der ungeheure schwankende Stein, den er beim Absprung tief herabgedrückt hatte, von seinem Gewicht befreit, wieder zurückschnellte und, zum erstenmal in all den Jahrhunderten das Gleichgewicht verlierend, mit gewaltigem Krachen mitten in die Felshöhle stürzte, welche dereinst dem Philosophen Noot als Einsiedelei gedient, und somit zweifellos für immer den Gang, der zu dem Ort des Lebens führte, mit Hunderten von Tonnen Felsgesteins verschloß.

All dies geschah in Sekundenschnelle, doch seltsamerweise sah ich es trotz meiner furchtbaren Lage in allen Einzelheiten. Sogar der Gedanke durchzuckte mich, daß nun kein menschliches Wesen mehr diesen schrecklichen Pfad beschreiten würde.

Im nächsten Augenblick spürte ich, wie Leo mit beiden Händen mein rechtes Handgelenk ergriff. Lang ausgestreckt auf dem Felssporn liegend, konnte er mich gerade erreichen.

»Laß den Felsen los, damit du frei in der Luft hängst«, sagte er mit ruhiger, fester Stimme. »Dann will ich versuchen, dich heraufzuziehen. Gelingt es nicht, so stürzen wir beide ab. Bist du bereit?«

Zur Antwort ließ ich los, zuerst mit der linken und dann mit der rechten Hand, so daß ich von dem überhängenden Felsen fortschwang und mit meinem ganzen Gewicht an Leos Armen hing. Es war ein gräßlicher Augenblick. Ich wußte, Leo war sehr stark, doch würde in der ungünstigen Lage, in der er sich befand, seine Kraft ausreichen, mich so weit hinaufzuziehen, daß ich mich an die Spitze des Felssporns klammern konnte?

Ein paar Sekunden, während deren er all seine Kräfte zusammennahm, schwang ich hin und her;

dann hörte ich über mir seine Sehnen knacken und fühlte mich wie ein kleines Kind emporgezogen, bis ich meinen linken Arm um den Fels legen und meine Brust darauf stützen konnte. Das übrige war leicht; in weiteren zwei oder drei Sekunden war ich oben, und wir lagen, zitternd wie Espenlaub und von kaltem Angstschweiß bedeckt, nebeneinander.

Gleich darauf erlosch, wie beim erstenmal, plötzlich das Licht.

Etwa eine halbe Stunde lagen wir so, ohne ein Wort zu sprechen; dann krochen wir, so gut es in dem tiefen Dunkel ging, über den großen Sporn. Als wir uns der Felswand näherten, wurde es jedoch etwas heller, wenngleich nur ein wenig, denn über uns war Nacht. Gleich darauf ließ auch der Sturm nach, und wir kamen wesentlich besser voran und erreichten endlich den Eingang des ersten Tunnels. Doch nun ergab sich eine neue Schwierigkeit: unser Öl war aufgebraucht, und unsere Lampen hatte zweifellos der herabstürzende Stein zu Staub zerschmettert. Überdies hatten wir nicht einen Tropfen Wasser, unseren Durst zu stillen, denn den letzten Rest hatten wir in Noots Höhle getrunken. Wie sollten wir durch diesen von Felsblöcken übersäten Tunnel hindurchkommen?

Uns blieb nichts anderes übrig, als unserem Gefühl zu vertrauen und zu versuchen, im Dunkel hindurchzufinden, und so krochen wir ohne Zögern hinein, denn wir fürchteten, daß bei längerem Warten unsere Erschöpfung uns überwältigen könnte, so daß wir auf der Stelle zusammenbrechen und sterben würden.

Oh, über die Schrecknisse dieses letzten Tunnels! Der Boden war mit Felsbrocken übersät. Immer wie-der stürzten wir über sie oder stießen uns daran, bis wir aus Dutzenden von Wunden bluteten. Wir konnten uns nur nach der Wand der Höhle richten, an der entlang wir uns tasteten, und schließlich verwirrte uns die Dunkelheit so sehr, daß uns einige Male der schreckliche Gedanke kam, wir seien umgekehrt und gingen in die falsche Richtung. So taumelten wir Stunde um Stunde, immer schwächer werdend, dahin und hielten alle paar Minuten an, um zu rasten, denn unsere Kraft war nahezu erschöpft. Einmal schliefen wir ein, und ich vermute, daß wir einige Stunden geschlafen haben, denn als wir erwachten, waren unsere Glieder ganz steif, das Blut aus unseren Wunden getrocknet, und harte Krusten bedeckten unsere Haut. Wieder schleppten wir uns weiter, bis wir endlich, als schon tiefste Verzweiflung uns erfüllte, wieder Tageslicht erblickten und bald darauf die Felsfurche außerhalb des Tunnels erreichten, welche, wie man sich erinnert, an der Außenwand des Felsens zu dem Tunnel führte.