Es war früher Morgen - wir merkten es an der herrlich süßen Luft und an der Farbe des gesegneten Himmels, den jemals wieder zu erblicken wir schon nicht mehr gehofft hatten. Da wir den grauenhaften Tunnel etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang betraten, hatten wir also die ganze Nacht gebraucht, ihn zu durchkriechen.
»Noch eine letzte Anstrengung, Leo«, keuchte ich, »dann sind wir an dem Abhang, wo Billali wartet, falls er nicht längst gegangen ist. Komm, verzage nicht«, denn er hatte sich der Länge nach zu Boden geworfen. Er erhob sich und, ans aufeinanderstützend, stiegen wir die letzten fünfzig Fuß des Felsens hinab - ich habe keine Ahnung, wie. Ich weiß nur noch, daß wir unten zusammenbrachen und aufeinanderliegend wieder zu uns kamen, und dann schleppten wir uns auf Händen und Knien wiederum weiter, dem Hain entgegen, wo auf ihre Rückkehr zu warten >Sie< Billali geboten hatte. Wir hatten auf diese Weise noch keine fünfzig Meter zurückgelegt, als plötzlich hinter einigen Bäumen zu unserer Linken, zwischen denen er vermutlich einen Morgenspaziergang machte, einer der Stummen hervortrat und auf uns zueilte, um zu sehen, was für seltsame Tiere wir wohl waren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er uns an, dann streckte er entsetzt die Hände in die Höhe und stürzte fast zu Boden. Im nächsten Augenblick rannte er, so schnell er konnte, dem etwa zweihundert Meter entfernten Hain zu. Kein Wunder, daß unser Anblick ihn entsetzte, denn wir müssen wahrhaft schrecklich ausgesehen haben. Leos goldene Locken waren schneeweiß geworden, seine Kleider hingen in Fetzen von seinem Körper, sein Gesicht und seine Hände waren eine einzige Masse von Beulen, Rissen, verkrustetem Blut und Schmutz, und ich selbst sah sicherlich nicht viel besser aus. Als ich zwei Tage später in einem Gewässer mein Spiegelbild sah, hätte ich mich beinahe nicht erkannt. Ich bin nie sehr schön gewesen, doch außer Häßlichkeit war meinen Zügen noch etwas anderes eingeprägt, das ich bis zum heutigen Tage nicht verloren habe - etwas, das dem bestürzten Blick ähnelt, mit dem ein Mensch erschrocken aus tiefem Schlaf auffährt. Und das ist wirklich nicht verwunderlich. Ein Wunder ist lediglich, daß wir alldem entrannen, ohne unseren Verstand zu verlieren.
Plötzlich sah ich zu meiner tiefsten Erleichterung den alten Billali uns entgegeneilen, und selbst unter diesen Umständen konnte ich mich eines leisen Lächelns über den verblüfften Ausdruck auf seinem würdevollen Gesicht nicht erwehren.
»Oh, mein Pavian! Mein Pavian!« rief er, »mein lieber Sohn, seid wirklich ihr es, du und der Löwe? Ei, seine Mähne, die doch golden war wie reifes Korn, ist ja schneeweiß! Wo kommt ihr her? Und wo ist das Schwein und wo ist >Sie<, die Herrscherin?«
»Tot, beide tot!« erwiderte ich; »doch keine Fragen jetzt, bring uns Essen und Trinken, oder wir sterben vor deinen. Augen. Siehst du nicht, daß unsere Zungen schwarz vor Durst sind? Und du glaubst, wir könnten reden?«
»Tot!« keuchte er. »Unmöglich! >Sie<, die Unsterbliche - tot? Wie kann das sein?« Doch dann merkte er wohl, daß die Stummen, welche herbeigeeilt waren, aufmerksam sein Gesicht betrachteten, denn er schwieg und bedeutete ihnen, uns zum Lager zu tragen, was sie taten.
Zum Glück kochte gerade ein wenig Suppe auf dem Feuer. Da wir zu schwach waren, sie selbst zu essen, flößte Billali sie uns ein, und ich bin fest überzeugt, daß er uns dadurch vor dem Tod infolge gänzlicher Entkräftigung bewahrte. Darauf befahl er den Stummen, uns mit feuchten Tüchern von Blut und Schmutz zu säubern, und dann wurden wir auf einen Haufen herrlich duftenden Grases gelegt und sanken sogleich, körperlich und geistig völlig erschöpft, in einen todesähnlichen Schlaf.
28
Über den Berg
Das nächste, dessen ich mich entsinne, ist, daß ich mich schrecklich zerschlagen fühlte und daß mich in meiner Benommenheit einen Augenblick der seltsame Gedanke durchzuckte, ich sei ein Teppich, den man soeben fest durchgeklopft hatte. Als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick auf das würdevolle Gesicht unseres alten Freundes Billali, der neben meinem improvisierten Lager saß und sich nachdenklich seinen langen Bart strich. Sein Anblick rief mir sogleich alles, was wir durchgemacht hatten, ins Gedächtnis zurück, und als ich gleich darauf das nahezu zu Mus zerschlagene Gesicht des mir gegenüberliegenden Leo und seine schneeweißen, einst so herrlich goldenen Locken[25] sah, schloß ich stöhnend wieder meine Augen.
»Du hast lange geschlafen, mein Pavian«, sagte der alte Billali.
»Wie lange, mein Vater?« fragte ich.
»Einen Lauf der Sonne und einen Lauf des Mondes, einen Tag und eine Nacht hast du geschlafen, und der Löwe ebenfalls. Siehe, er schläft noch immer.«
»Gesegnet sei der Schlaf«, erwiderte ich, »denn er verschlingt die Erinnerung.«
»Berichte mir«, sagte er, »was euch widerfahren ist und was es mit dieser seltsamen Geschichte vom Tode der unsterblichen >Sie< auf sich hat. Bedenke, mein Sohn; wenn es wahr ist, dann seid ihr, du und der Löwe, in größter Gefahr - ja dann ist zu befürchten, daß der Topf, mit dem ihr getötet werden sollt, bereits glüht und daß die Mägen derer, die euch essen wollen, schon nach dem Festschmaus gieren. Weißt du nicht, daß die Amahagger, meine Kinder, diese Höhlenbewohner, euch hassen? Sie hassen euch, weil ihr Fremdlinge seid, und noch mehr hassen sie euch, weil >Sie< ihre Brüder euretwegen foltern ließ. Sobald sie erfahren, daß sie den Zorn Hiyas, der schrecklichen Herrscherin, nicht mehr zu fürchten brauchen, werden sie euch bestimmt mit dem Topf töten. Doch nun erzähle, mein armer Pavian.«
So begann ich denn zu erzählen - nicht alles freilich, denn das hielt ich nicht für ratsam, sondern nur so viel, wie nötig war, ihm begreiflich zu machen, daß >Sie< wirklich nicht mehr am Leben war; da er die Wahrheit nicht verstanden hätte, sagte ich ihm, sie sei in ein Feuer gefallen und darin verbrannt. Auch einige von unseren schrecklichen Erlebnissen auf dem Rückweg erzählte ich ihm und beeindruckte ihn damit tief. Ich merkte jedoch deutlich, daß er an Ayes-has Tod nicht glaubte. Er glaubte lediglich, daß wir sie für tot hielten, doch schien er überzeugt, es habe ihr nur gefallen, für eine Weile zu verschwinden. Bereits zu Lebzeiten seines Vaters, so sagte er, sei sie einmal für zwölf Jahre verschwunden, und nach einer alten Überlieferung sei sie vor vielen Jahrhunderten einmal ein ganzes Menschenleben lang nicht gesehen worden; dann sei sie jedoch plötzlich wieder erschienen und habe ein Weib, das sich die Stellung der Königin angemaßt hatte, getötet. Ich sagte nichts darauf, sondern schüttelte nur traurig den Kopf. Ach, nur zu gut wußte ich, daß Ayesha nicht wieder erscheinen oder daß zumindest Billali sie nie wiedersehen würde. Vielleicht würden wir ihr dereinst in einer anderen Welt begegnen; in dieser ganz sicher nicht.
»Und was gedenkst du nun zu tun, mein armer Pavian?« fragte Billali.
»Ich weiß es nicht, mein Vater«, sagte ich. »Können wir nicht aus diesem Lande fliehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Das ist sehr schwer. Den Weg über Kor dürft ihr nicht nehmen, denn wenn diese Wilden euch sehen und entdecken würden, daß ihr allein seid, dann -«, und er lächelte bedeutsam und machte eine Geste, als setze er sich einen Hut auf den Kopf. »Es gibt jedoch, wie ich dir schon einmal erzählte, einen Weg über die Berge, über den man das Vieh auf die Weide treibt. Jenseits der Weiden müßt ihr drei Tagesmärsche weit durch Sümpfe, und wie es dann weitergeht, weiß ich nicht. Angeblich soll sieben Tagesmärsche weiter ein großer Fluß sein, der in das schwarze Wasser fließt. Wenn ihr dorthin gelangt, könntet ihr vielleicht entkommen - aber wie dort hingelangen?«
»Billali«, sagte ich, »du weißt, ich rettete dir einmal das Leben. Nun vergilt es mir, mein Vater, und rette mir das meine und das meines Freundes, des Löwen. Wenn einst deine letzte Stunde kommt, wird es ein tröstlicher Gedanke für dich sein, und es wird das Böse, das du vielleicht in deinem Leben getan hast, aufwiegen. Und wenn du recht hast und >Sie< sich nur verborgen hält, dann wird sie dich bei ihrer
25
Seltsamerweise hat Leos Haar vor kurzem wieder ein wenig von seiner Farbe wiedererlangt; es ist jetzt gelblichgrau, und ich hege die Hoffnung, daß es mit der Zeit sein ursprüngliches Aussehen zurückgewinnen wird. -