Jetzt wo die erste Hälfte der Reise hinter ihnen lag, war der Zeitpunkt gekommen, um sich mit den bevorstehenden Pflichten zu beschäftigen.
Ein paar Stunden und etliche Becher Wein später spürte Caius, dass er nach all der konzentrierten Arbeit den Gang zur Latrine nicht länger aufschieben konnte. Er stand auf und ging hinaus.
Als er ins Freie trat, war die Dämmerung bereits fortgeschritten. Die Sonne beleuchtete die zerklüfteten Felswände des Gebirges, aus dem sie gekommen waren, während die Talmulde mit der einsamen Herberge schon im Schatten lag. Ein paar Kühe grasten ganz in der Nähe. Hinter dem Gasthof war am Rand eines kleinen Tannenwäldchens die Latrine. Caius fühlte, wie seine Benommenheit etwas von ihm abfiel, als er durch die kühle Luft zu dem kleinen Verschlag ging, dessen Tür verschlossen war. Fluchend umrundete er ihn, um sich in dem Wäldchen dahinter zu erleichtern. Er trat zwischen die Stämme, wo es schon ziemlich dunkel war. Ein Zweig knackte unter seinem Fuß und irgendein Tier raschelte vor ihm im Unterholz. Eher beiläufig blickte er in die Richtung und im selben Moment gefror ihm fast das Blut in den Adern. Unter einem Strauch ragten die nackten Beine eines Mannes hervor. Sie waren mit Kratzern und dunklen Flecken übersät. Caius’ Magen krampfte sich zusammen, als er sich bückte und eine der Waden berührte. Sie war kühl. War der Mann tot? Oder war er nur betrunken in den Wald getaumelt und hatte sich im Sturz den Kopf aufgeschlagen? In einem schnellen Entschluss packte Caius die Beine und zog den auf dem Bauch liegenden Mann unter dem Strauch hervor. Dabei kam er ins Straucheln und fiel rückwärts aufs Steißbein. Gleichzeitig mit dem Schmerz durchzuckte ein Grausen seinen Körper, als er im Halbdunkel sah, dass der Mann keinen Kopf mehr hatte. Sofort ließ er die Beine los, machte kehrt und raste zurück in die Gaststube.
Lucius saß immer noch an seinem Platz und schielte nach einer jungen Bedienung. Als Caius an den Tisch stürzte, zog er die Augenbrauen zusammen. »Wo hat der Latrinengeist dich denn hingebissen?«
»Da draußen liegt ein Toter«, stieß Caius heiser hervor. »Hinter der Latrine, zwischen den Tannen!«
Lucius riss die Augen auf. Er hatte sofort verstanden, dass Caius keine Späße machte. »Du meinst also, da liegt einer …«, sagte er vorsichtig. »Woher willst du wissen, dass er tot ist?«
»Mann, weil er keinen Kopf mehr hat!«
Das saß. Lucius, der nie verlegen um eine Antwort war, wurde blass und brachte kein Wort hervor. Schließlich gab er sich einen Ruck und stand auf. »Lass uns noch mal nachsehen«, schlug er vor. »Bevor wir hier alle verrückt machen.«
Caius zögerte. Der Gedanke an den grausigen Anblick war derart abstoßend, dass er am liebsten gleich eigenhändig die Pferde angespannt und diesen Ort so schnell wie möglich verlassen hätte. Gleichzeitig ging von dem Toten eine schauderhafte Faszination aus. Ganz offensichtlich war hier ein Verbrechen geschehen, und irgendetwas in ihm drängte darauf, der Sache auf den Grund zu gehen. »Gut«, sagte er schließlich. »Sehen wir nach.« Instinktiv griff er nach einem auf dem Tisch liegenden Messer, dann folgte er seinem Freund in die Dämmerung hinaus. Als Caius auf den Rand des Wäldchens zuging, blickte er sich nach allen Seiten um. War der Mörder noch in der Nähe? Sie traten zwischen die Tannen. Caius hörte, wie Lucius hinter ihm schluckte, als er den leblosen Körper entdeckte, der genau dort lag, wo Caius ihn zurückgelassen hatte.
Caius versuchte, nicht auf die Stelle zu schauen, wo der Kopf hätte sein müssen. Er kniete sich auf den Boden. Der Tote war mit einer leichten Tunika bekleidet. Caius’ Blick blieb an der rechten Hand hängen. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken. Daumen und Zeigefinger fehlten. Er drehte sich zu seinem Freund. »Den kenne ich«, brachte er mühsam hervor.
»Woher in aller Welt kennst du einen Toten ohne Gesicht?«
Caius deutete stumm auf die Hand mit den fehlenden Fingern. »Er war im Haus des Princeps an dem Nachmittag, als ich auch da war. Ein Eilbote. Philippos heißt er.«
Lucius sagte nichts, dann beugte er sich mit spürbarem Widerwillen vor. »Da liegt was«, sagte er und zeigte auf eine Stelle ein paar Schritte von der Leiche entfernt. Caius suchte mit den Augen den Waldboden ab. Da war tatsächlich etwas.
Lucius ging im weiten Bogen auf den Gegenstand zu. Es war eine Lederschatulle mit aufgeprägtem Muster. Er nahm sie in die Hand und blickte hinein. »Leer«, flüsterte er enttäuscht.
Caius war mit zwei Schritten bei seinem Freund und entriss ihm den Behälter. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war offensichtlich eine der doppelwandigen Schatullen, die der andere Bote, dieser Patroklos, erfunden hatte, jedenfalls baumelte am oberen Ende ein dünnes Lederband. Mit zitternden Fingern und ohne recht zu wissen, was er tat, stocherte Caius mit dem Messer am Rand der Schatulle herum, bis er einen Schlitz fand, der sich verbreitern ließ; dabei verschwand das Lederband Stück für Stück in einem kleinen Loch. Die Schatulle hatte tatsächlich eine doppelte Wand! Caius tastete mit zwei Fingern in dem Zwischenraum herum, bis er ein Papyrusblatt spürte, das sich von innen eng an die äußere Hülle schmiegte. »Nicht leer«, sagte er mit bebender Stimme.
8
Fastrada wog die Münze, die Irmin ihr gegeben hatte, in der Hand, als wollte sie sie auf ihre Echtheit prüfen. Die Bildsprache und die Bedeutung der Buchstaben, die auf den silbernen Denar geprägt waren, erschlossen sich ihr nur zum Teil. Auf der einen Seite der kleinen glänzenden Scheibe war der Kopf eines Mannes im Profil abgebildet. Sein Haar trug er in kurzen Strähnen nach vorn gekämmt, seine Nase war markant und gerade geschnitten und die Augen schienen etwas in der Ferne zu fixieren. Um den Mund glaubte Fastrada den Hauch eines Lächelns zu erkennen. Auf dem Rand der Münze verlief eine Umschrift. Fastrada konnte das Kürzel SPQR und die Abkürzung einiger Titel entziffern, die, so viel verstand sie immerhin, für Imperator Caesar Augustus standen. Imperator Caesar Augustus. Der Mann, der am Rhein Tempel und ganze Städte bauen ließ, auf dessen Befehl unglaubliche Armeen durch das Land zogen, die im Laufe nur eines Tages Lager aus dem Boden stampften und wieder abbauten. Der Mann, der von seiner Stadt an einem Fluss namens Tiber aus herrschte wie ein Gott, strahlend und unheimlich zugleich. Der Mann, der Richter und Verwalter erheben und absetzen ließ – Richter, deren Urteile nicht allen schmeckten, und Verwalter, an die nicht jeder gern Abgaben zahlte. Auf der Münze folgten weitere Buchstaben, deren Sinn sich Fastrada verschloss. Irmin hatte ihr endlos viel von seiner Zeit in dieser gigantischen Stadt aus Marmor und Gold erzählt, in der er als Junge jahrelang gelebt hatte und in der er sich zurechtfand wie ein Einheimischer. Was er berichtet hatte, klang unfassbar. Theater, auf deren Zuschauerrängen das ganze cheruskische Volk Platz gefunden hätte. Tempel mit steinernen Säulen, die dicker und höher waren als die größten Eichenstämme in diesen Wäldern. Bäder, in denen heißer Dampf vom Boden aufstieg und warmes Wasser aus Löchern in den Wänden strömte. Überfluss, wohin das Auge reichte. Statuen aus Marmor, die so echt aussahen, als würden sie jeden Moment von ihren Sockeln steigen. Frauen mit Goldschmuck, für den man ganze Rinderherden hätte kaufen können.
Fastrada blickte wieder auf das Geldstück in ihrer Hand. »Das ist also ein Denar«, sagte sie nachdenklich. »Was kann man dafür kaufen?«
Irmin, der wie sie auf einem Baumstumpf saß, lächelte. »Die wichtigste Frage gleich zuerst, was? Du verstehst schnell, worauf es ankommt, Cousinchen!« Er dachte kurz nach. »Einen Sack Weizen zum Beispiel. Oder zwei Hühner. Oder einen kleinen Ballen Wolle. Für hundert davon bekommst du in Rom einen Sklaven. Allerdings einen, der nichts kann. Soll er mit Pferden umgehen können, wird er doppelt so teuer. Soll er kochen können, wird er zehnmal so teuer.«