Irmin richtete sich mit einem Mal auf. »Fastrada«, sagte er so ernst, dass sie zusammenzuckte. Sie blickte ihn fragend an. Was kommt denn jetzt, dachte sie. »Du kennst doch das römische Lager eine Tagesreise von hier an der Lippe?«
»Ja«, antwortete sie und wunderte sich über den kalten Unterton in Irmins Stimme. »Castra Lupiana.«
»Ich möchte, dass du dort etwas für mich erledigst«, sagte er.
9
Caius und Lucius stürzten zurück in die Herberge. Sobald sie die Gaststube betreten hatten, zwangen sie sich langsam zu gehen, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zu lenken.
Caius pochte das Herz bis zum Hals, und er versuchte sein Keuchen zu unterdrücken. Seine Gedanken rasten. War der Mörder noch in der Nähe? Saß er womöglich ein paar Tische weiter und hatte sie längst im Visier? So sehr der Gedanke ihn auch beunruhigte, so erleichtert war er gleichzeitig, nicht mehr im Halbdunkel zwischen den Tannen bei dieser schrecklich zugerichteten Leiche hocken zu müssen. Sie waren wieder unter Menschen. Ihre Leibwächter hielten sich immer noch an dem Tisch in der Ecke auf. Ab und zu warf einer von ihnen einen Blick in die Runde.
Uns kann nichts passieren, dachte Caius. Die Schatulle hatte er unter seiner Kleidung versteckt.
Die beiden Freunde nahmen wieder Platz und atmeten tief durch.
Lucius blickte seinen Freund über den Tisch hinweg an. »Worauf wartest du?«, drängte er. »Hol den Brief raus, oder was auch immer da drin ist!«
»Ist ja gut.« Caius ließ die Schatulle unter seiner Tunika hervorgleiten und entnahm dem Geheimfach die Papyrusrolle. Die Schatulle stellte er auf den Boden. Er blickte sich um, aber niemand schenkte ihnen Beachtung. Vier oder fünf weitere Gäste waren dazugekommen, doch alle plauderten vor sich hin, aßen und tranken.
Lucius trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte, während Caius den Papyrus vor sich ausbreitete und ihn mit dem Arm glatt strich.
Die Schrift war unsauber und in dem schummerigen Licht zweier kleiner Öllampen nur schwer zu entziffern. Wieder blickte Caius sich im Raum um. Noch immer nahm niemand Notiz von ihnen. Lucius rutschte unruhig auf der Bank hin und her und schien darauf zu warten, dass Caius zu lesen begann. Plötzlich zeigte er mit zitterndem Finger auf eine kurze Zeile, die einsam am oberen Rand des Blattes stand: der Name des Absenders. Caius erstarrte. Publius Quinctilius Varus. Sie blickten sich mit offenem Mund an. Es war ein Brief des Statthalters von Germanien!
»Los«, drängelte Lucius.
Und Caius begann stockend zu lesen, was die Zeilen ihm nur widerwillig preisgeben wollten. Es war nicht die charakterlose, routinierte Handschrift eines Amtsschreibers. Diese Schrift war eigenwillig und hatte wütende Oberlängen. Es war die Schrift eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu diktieren.
Mein Caesar,
ich leugne nicht, was Du mir vorwirfst. Seit ich diese Bürde mit mir herumtrage, seit fünfzehn Jahren, habe ich täglich mit dem Brief gerechnet, den ich jetzt in den Händen halte. Fünfzehn Jahre lang habe ich mich gefragt, was Du mich nun fragen wirst: Warum habe ich Dein Vertrauen missbraucht? Fünfzehn Jahre lang habe ich diese Frage von mir geschoben, und so habe ich Deiner Enttäuschung nichts entgegenzusetzen, keine Rechtfertigung und noch nicht einmal eine Antwort. Fünfzehn Jahre lang habe ich Dir als Mitstreiter gedient und dabei als Freund versagt.
Fünfzehn Jahre lang habe ich mir immer wieder vorgenommen Deinem Brief zuvorzukommen, Dich um Verzeihung zu bitten für meine Unredlichkeit, von der Du nie erfahren hättest, wenn die Götter mich vorher aus dem Leben abberufen hätten. Ich hätte mein Geheimnis mit ins Grab genommen, dessen sei gewiss. Die Welt weiß nicht, was sie nicht wissen darf, und von mir wird sie es nicht erfahren. Niemals habe ich ein Wort darüber verloren. Wenn Du mir noch etwas glauben kannst, dann glaube mir bitte dies.
Und noch eines solltest Du wissen: Es war nicht Habgier und es war nicht Ehrgeiz, die mich dazu brachten, für mich zu behalten, was mir nun einmal zugefallen war. Du kennst mich und meine Loyalität zu Dir. Doch Du kennst auch meine Gegner und ihre Intrigen, Du kennst das Ende meines Vaters und meine Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Du kennst mein Misstrauen gegenüber den Gunsterweisen anderer. Weil ich glaubte, mit diesem vergifteten Geschenk des Schicksals etwas in die Hand bekommen zu haben, das mich einmal retten könnte, behielt ich es. Die Jahre vergingen, und je mehr Du mich mit Deinen Treuebeweisen gleichermaßen ehrtest und beschämtest, desto unmöglicher wurde es mir, Dir mein Geheimnis zu offenbaren. Komme nunmehr, wer besseren Rat zu sagen vermeinet, Jüngling oder auch Greis, mir sei er herzlich willkommen!
Da Du mich trotz allem nicht abberufen hast, werde ich zunächst meinen Auftrag erfüllen. Wenn der Feldzug in Germanien beendet ist, werde ich nach Rom reisen, persönlich Rechenschaft über alles ablegen und Dir zurückgeben, was Dir gehört. Bis dahin seien die Götter mit unseren Adlern.
Caius blickte von dem Papyrus auf. Vor seinen Augen flimmerte es vom angestrengten Lesen, und den Raum mit den anderen Gästen nahm er nur verschwommen wahr. Das Stimmengemurmel, das sein Verstand vorübergehend ausgeblendet hatte, brandete wieder heran und verwirrte seine Gedanken zusätzlich. Varus. Ein Geheimnis. Wovon in aller Welt war die Rede? In was für eine Sache waren sie da geraten? Er blickte zu Lucius.
»Das ist unglaublich«, murmelte sein Freund und zog geräuschvoll die Luft ein.
»Was kann er nur meinen?«, fragte Caius.
Lucius kratzte sich am Kopf. »Fassen wir mal zusammen«, sagte er. »Varus führt seit fünfzehn Jahren etwas mit sich, das dem Princeps gehört. Der hat jetzt davon erfahren, hat Varus einen Brief geschrieben und verlangt sein Eigentum zurück.«
»So weit war ich auch schon«, erwiderte Caius. »Aber um was geht es?«
»Um Geld?«
»Nein.« Caius schüttelte den Kopf. »Wenn Varus sich Geld unter den Nagel gerissen hätte, dann würde er sich ja nur selbst als Dieb entlarven. Es geht um etwas, das den Princeps in Verlegenheit bringen könnte. Immerhin ist die Sache so heikel, dass Varus sie nicht ein einziges Mal beim Namen nennt und stattdessen versichert, niemand habe davon erfahren. Hier: Die Welt weiß nicht, was sie nicht wissen darf.«
Lucius sog geräuschvoll die Luft ein. »Es muss etwas sein, mit dem man den Princeps erpressen kann. Etwas, das ihn bloßstellen würde.«
»Und gleichzeitig etwas, mit dem man unter Umständen Habgier und Ehrgeiz befriedigen kann.«
»Indem man dem Princeps droht, es anderen zu zeigen. Indem man ihn erpresst.«
»Ein Dokument?«
»Könnte sein.«
Sie schwiegen kurz. Einige von den anderen Gästen standen auf und verabschiedeten sich voneinander. Die Leibwächter blickten fragend herüber. Caius nickte ihnen zu und bedeutete ihnen, dass sie sich entfernen könnten. Die vier standen auf und verließen die Gaststube, und Caius fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, sie wegzuschicken.
»Es muss etwas sein, das dem Princeps abhandengekommen ist«, nahm Lucius den Faden wieder auf.
»Muss es nicht. Da steht nur, dass es ihm gehört. Vielleicht war es woanders. Vielleicht hat es jemand für ihn verwahrt. Vielleicht wusste der Princeps auch nicht, dass es existiert. Ja, wahrscheinlich ist es gerade darum so gefährlich: Weil niemand anders wissen darf, dass es existiert!«