»Und als Varus davon erfahren hat, hat er es an sich genommen.«
»Es hört sich eher so an, als hätte es ihm jemand gegeben, dieses vergiftete Geschenk des Schicksals, wie er es nennt.«
»Kann ja sein, dass es für den Princeps bestimmt war, Varus es aber nicht abgeliefert hat«, schlug Lucius vor.
»Gut möglich. Aber nicht aus Habgier und Ehrgeiz, sondern um es als eine Art Pfand zu benutzen, falls der Princeps ihm seine Gönnerschaft entzieht. Hier: Du kennst mein Misstrauen gegenüber den Gunsterweisen anderer.«
»Was meint er denn mit dem Ende seines Vaters?«
»Sein Vater war auf der Seite der Gegner des Princeps und hat nach einer Niederlage Selbstmord begangen. Daher wahrscheinlich auch sein Misstrauen. Und sein schlechtes Gewissen. Ohne Augustus wäre er nämlich nichts.«
Wieder dachten sie eine Weile nach. Und wieder war es Lucius, der das Schweigen brach. »Eins haben wir uns noch gar nicht gefragt: Wo war Varus eigentlich vor fünfzehn Jahren?«
»Richtig.« Caius versuchte sich an die vielen Gespräche zu erinnern, die im Haus seines Vaters geführt worden waren. Es kam ihm vor, als sei das alles eine Ewigkeit her und überdies in einer anderen Welt passiert: die Vorbereitung der Reise, die vielen Gäste und dann der Schlaganfall. Langsam ordneten sich seine Erinnerungen. Sein Vater hatte unter anderem ausführliche Lebensläufe von Varus und seinen Legaten angefordert. Caius sah die eng beschriebenen Wachstafeln noch genau vor sich. Varus hatte die übliche Ämterlaufbahn absolviert, wahrscheinlich beschleunigt durch seine Ehe mit einer Großnichte des Princeps. Er war Quaestor gewesen. Dann Praetor. Legionslegat. Konsul. Prokonsul in Afrika. Propraetor in Syrien. Syrien. Das war es! »Syrien«, sagte Caius laut. »Vor fünfzehn Jahren war Varus Statthalter in Syrien! Was auch immer er bei sich hat – er muss es in Syrien bekommen haben!«
»Das ist doch schon was. Fällt dir irgendetwas ein, das in dieser Zeit dort verschwunden sein könnte?«
»Na, wenn ich schon davon wüsste, dann wäre in der langen Zeit wohl auch jemand anders dahintergekommen.«
»Wir drehen uns im Kreis. Lies den Brief noch mal. Vielleicht versteckt sich irgendwo ein weiterer Hinweis.«
Caius las den Brief erneut vor, flüssiger als beim ersten Mal, aber leiser, denn die Geräuschkulisse im Hintergrund hatte an Lautstärke eingebüßt. Es waren vielleicht noch zehn Gäste da, verteilt auf mehrere Tische.
»Komme nunmehr, wer besseren Rat zu sagen vermeinet, Jüngling oder auch Greis, mir sei er herzlich willkommen«, murmelte Lucius. »Passt gar nicht zum Rest. Das hat er doch nicht selbst geschrieben.«
»Es stammt aus der Ilias«, erwiderte Caius. »Das sagt Agamemnon zu Odysseus.«
»Und warum schreibt er das?«, fragte Lucius.
»Könnte er damit auf irgendeine gemeinsame Erinnerung anspielen? Mit dem Geheimnis hat es jedenfalls nichts zu tun. Und andere versteckte Hinweise kann ich hier beim besten Willen nicht entdecken. Warum sollte Varus auch welche einbauen? Sie wissen ja offenbar beide, wovon die Rede ist.«
Eine junge Bedienung trat an den Tisch, um die Weinkaraffe abzuräumen. Sie hatte ein hübsches Gesicht und schwarzes Haar, das ihr in einem dicken Zopf über die Schulter fiel, doch Lucius beachtete sie gar nicht.
Caius blickte wieder auf den Brief. »So kommen wir nicht weiter.« Er grinste breit. »Da müssen wir uns wohl selbst auf die Suche machen. Der Herr Statthalter scheint sein Geheimnis ja wie seinen Augapfel zu hüten. Und wenn er demnächst über den Rhein geht, wer ist dann mit von der Partie?«
»Wir!« Lucius lachte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Einen Moment vergaßen sie, was für ein schauriger Fund den Anfang dieses Abenteuers markierte. Dann fiel es beiden gleichzeitig wieder ein und ihr Lachen erstarb. Jeder wusste, was in diesem Moment in dem anderen vorging.
»Was ist, wenn wir doch nicht die Einzigen sind, die von der Sache wissen?«, gab Lucius zu bedenken. »Immerhin hat jemand den Boten ermordet.«
»Aber er hat die eigentliche Nachricht nicht gefunden«, entgegnete Caius. »Er hat einen Brief mit völlig uninteressantem Inhalt aus der Schatulle gezogen. Darin besteht ja der Trick.«
»Er muss jedoch vermutet haben, dass der Bote eine wichtige Mitteilung bei sich hat. Das würde erklären, warum er der Leiche den Kopf abgeschnitten hat. Damit Rom nicht davon erfährt, dass dieser Philippos ermordet an einer Raststation an der Grenze zu Raetien aufgefunden wurde. Damit es keine Nachforschungen gibt. So ist es nur eine beliebige Leiche ohne Kopf. Erschlagen von einem Raubmörder. Oder von einem Wahnsinnigen. Kommt ja vor. Die Leute in der Gegend schließen ein paar Monate lang ihre Türen etwas sorgfältiger ab und im nächsten Frühjahr ist alles vergessen.«
»Du meinst also, jemand hat den Boten erkannt und ermordet?«, hakte Caius nach.
»Könnte doch sein? Haben die Boten des Princeps immer die gleichen Schatullen?«
»Keine Ahnung. Bei den beiden, die ich gesehen habe, war es jedenfalls so.«
»Und haben die alle ein Geheimfach?«
Caius überlegte angestrengt und nach und nach fielen ihm die Einzelheiten des Nachmittags bei Augustus wieder ein. »Also, zuerst kam dieser Patroklos, der hat einen Brief mitgenommen, und bei der Gelegenheit hat der Princeps uns erklärt, wie das mit dem Geheimfach funktioniert, aber nur so nebenbei. Das Gespräch ging weiter, dann kam Rullianus und schließlich irgendwann dieser Philippos mit seiner Schatulle.« Caius legte die Stirn in Falten und rief sich die Situation in Erinnerung. »Ja«, fuhr er schließlich fort, »er steckte den Brief in seine Schatulle und zog an diesem Band. Damit verschließt man das Geheimfach.« Caius nahm die Schatulle, die immer noch unter dem Tisch auf dem Boden stand. Er betastete mit den Fingern den Rand und die kleine Öffnung, aus der das Ende des Lederbandes schaute.
Lucius war blass geworden und starrte seinen Freund mit offenem Mund an. »Das kann nicht wahr sein«, sagte er schließlich tonlos.
»Was?«, fragte Caius.
Lucius packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Bist du so schwer von Begriff? Der Mörder wusste, dass er einen Boten des Princeps vor sich hatte, weil er ihn beim Princeps gesehen hatte. Er konnte aber nichts von dem Geheimfach wissen, weil er noch nicht anwesend war, als der Princeps davon sprach.«
»Rullianus«, stieß Caius hervor. Er dachte an die Begegnung mit dem Legaten vor wenigen Stunden und spürte, wie eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper kroch.
10
Die Reise zog sich hin. Sie fuhren die meiste Zeit über auf den neuen und gut ausgebauten Straßen entlang des Rheins. Der Strom glitzerte zu ihrer Rechten in der Sonne. Er durchschnitt ein Flusstal, das am Horizont von Höhenzügen begrenzt wurde, die abrupt aus der Tiefebene aufragten. Caius war überrascht von der Breite des Flusses, der schon nach wenigen Tagen deutlich mächtiger war als der Tiber in Rom. Wie groß mag erst das dahinterliegende Land sein, dachte er. Lucius, der durch das monotone Rasseln der Räder schnell müde wurde, verschlief die halbe Fahrt, sodass Caius viel Zeit hatte, aus dem Fenster zu blicken. Seine Gedanken kreisten um Rullianus. Hatte er wirklich den Boten ermordet? Hatte er jemanden beauftragt? Je weiter sie sich vom Ort des Leichenfundes entfernten, desto absurder kam ihm der Verdacht vor. Ging ihre Vermutung nicht doch in eine völlig falsche Richtung? War es am Ende ein ganz gewöhnlicher Raubmörder gewesen, der in der Schatulle nach Geld gesucht hatte? Aber warum hätte er seinem Opfer den Kopf abschneiden sollen? Während der Wagen dahinfuhr, schweiften seine Gedanken immer wieder ab.
Das gegenüberliegende östliche Ufer des Stroms war fast vollständig von Wäldern bedeckt, die sich dunkelgrün und schweigend bis zum Horizont erhoben. Hier und da entdeckte Caius kleine Kähne, die zwischen Bäumen und Buschwerk auf die Böschung gezogen worden waren. Vereinzelte Fischer glitten mit Einbäumen in Ufernähe über das Wasser und legten Netze aus oder holten sie ein. Einmal erschien ein schwer bewaffneter Reiter auf dem schmalen Strand, tränkte sein Pferd im seichten Wasser, dann hieb er dem Tier die Fersen in die Flanken und verschwand wieder in der geheimnisvollen Kulisse aus Baumstämmen, die so dicht standen, dass sie den Reiter nach wenigen Augenblicken verschluckten. Ansonsten waren kaum Menschen unterwegs. Man möchte diesen ganzen Wald auf den Kopf stellen und schütteln, dachte Caius. Wäre doch interessant zu sehen, was da alles rausfällt.