Am nächsten Morgen wurden sie Zeugen eines unglaublichen Schauspiels. Varus schien keine Zeit vergeuden zu wollen. Der Aufbruch ins rechtsrheinische Germanien war schon für diesen Tag vorgesehen, obwohl die XVII. Legion erst in der vergangenen Nacht in Castra Vetera angekommen war. Die Legionäre hatten in einem eigens für sie vorbereiteten Behelfslager etwa eine Meile vor den Toren des Hauptlagers übernachtet, nicht weit von der Vorstadt. Nach dem Frühstück verließen Caius und Lucius ihre Herberge und begaben sich auf den sanft ansteigenden Hügel, auf dessen Kuppe das Lager thronte, das von diesem Standpunkt aus mit seinem steil aufragenden Wall gigantisch wirkte. Es war noch früh, dennoch stand die Sonne schon hoch am leicht bewölkten Himmel über dem glitzernden Fluss. Der Rhein war an dieser Stelle wohl eine halbe Meile breit und sah fast wie ein Binnensee aus, der in dem ausgedehnten Schwemmland an beiden Ufern in kleine und große Tümpel überging. Das Land war völlig flach bis auf den Hügel, auf dem das Lager stand. An normalen Tagen hätte der Blick sich von hier aus in der endlosen Weite verloren. Heute aber brodelte die Luft vor Betriebsamkeit. Caius stand mit offenem Mund da und schaute aus der Ferne zu, wie Tausende von Soldaten und Trossleuten damit beschäftigt waren, das Behelfslager abzubauen, und zwar so schnell, dass es fast schon an Zauberei grenzte. Menschenketten reichten Stangen, aufgerollte Seile, Palisadenpfähle und Körbe weiter. Kisten wurden auf Wagen gehievt und mit Planen abgedeckt. In langen Reihen fuhren die Wagen vor, nahmen die Ladung auf und ordneten sich in einiger Entfernung neu. Es dauerte keine halbe Stunde, dann war an der Stelle des Lagers nur noch ein riesiger quadratischer Fleck aus platt getretenem Gras zu sehen, der von einem rechtwinkligen Muster von mehr oder weniger deutlich sichtbaren Trassen aus aufgeweichtem Erdreich durchzogen war. Scharfe Kommandos und Hornsignale wehten herüber, woraufhin die Soldaten ihr in sauberen Karrees abgestelltes Gepäck schulterten und sich nach Centurien hinter den aufragenden Feldzeichen formierten. Caius zählte fünfzig Centurien, also etwa viertausend Soldaten. Sie bewegten sich in einer ausgeklügelten Geometrie, als ob eine unsichtbare Hand vom Himmel aus den Takt vorgäbe. Und das war noch nicht alles: Während die Soldaten das Lager abgebaut hatten, war auf dem Fluss eine Reihe von Kriegsschiffen erschienen, die sich mit gleichmäßigem Ruderschlag langsam, aber entschlossen vorbeischob und weiter flussabwärts mitten im Strom vor Anker ging. Zwei Liburnen lösten sich aus dem Verband und hielten auf einen Anleger zu. Flussaufwärts war das Ufer von einer Kette aus flachen, quer zur Strömung vertäuten Transportkähnen gesäumt, deren Laderampen auf der Uferböschung auflagen. Einige der Kähne waren sechzig oder siebzig Schritte lang.
Wieder ertönten Kommandos. Die ersten Centurien marschierten in Sechserreihen auf das Ufer zu und betraten im Gleichschritt die Kähne, die von weiteren Helfern mit Stangen langsam vom Ufer weggeschoben wurden, damit sie durch die zunehmende Last nicht aufsetzten. Gleichzeitig kamen weiter hinten die ersten Wagenkolonnen in Bewegung; Maultierkarren wurden an Bord gelotst, dann erschien eine große Formation Reiter von irgendwoher und wurde ebenfalls verladen. Jeder schien genau zu wissen, wo er hinmusste. Innerhalb einer weiteren halben Stunde war die gesamte XVII. Legion verladen. In der Zeit, in der die letzten Transportwagen an Bord rollten, legten die ersten Mannschaftstransporter schon ab. In regelmäßigen Abständen lösten sich die Kähne vom Ufer, Soldaten stakten sie mit langen Stangen durch das flache und dann langsam tiefer werdende Wasser, während wieder andere mit Rudern den Kurs korrigierten. Die Strömung trug sie behäbig flussabwärts und bald hatte die Spitze der Kette die Mitte des Rheins erreicht.
Caius und Lucius standen die meiste Zeit über staunend da und beobachteten das rege Treiben wie eine Zirkusvorführung.
»Unglaublich«, murmelte Caius.
»Man hätte ein paar von diesen aufmüpfigen Barbaren als Zuschauer einladen sollen«, sagte Lucius. »Die Lust am Aufstand würde ihnen vergehen. Wer so etwas fertigbringt, ist unschlagbar.«
»Und das war erst der Anfang. Zwei Legionen fehlen noch.«
Als sei das das Stichwort gewesen, ertönten hinter ihnen im Lager erneut Hornsignale, woraufhin die beiden Torflügel dröhnend aufschwangen. Unmittelbar darauf ergoss sich eine Kolonne von Wagen aus dem Tor, floss die Straße zur Vorstadt hinunter und formierte sich zwischen dieser und dem offenen Gelände, wo zuvor das Behelfslager gewesen war. Der ineinandergreifende Ablauf aus Anmarsch, Aufstellung, Vorrücken, Beladen und Ablegen wiederholte sich; neben Legionären und Packwagen erschienen jetzt auch exotisch aussehende Gruppen von Hilfstruppen zu Fuß und zu Pferd: syrische Bogenschützen, hispanische Kavallerie und immer wieder Reiter aus Germanien, blonde und rothaarige Hünen auf kleinen zähen Pferden, bewaffnet mit Rundschilden und Lanzen, und dazwischen einzelne Standartenträger. Eine zweite Reihe von Transportkähnen legte ab, als die erste Kolonne die andere Seite des Flusses erreicht hatte und sich in der Ferne dicht am Ufer und sehr langsam flussaufwärts bewegte.
Obwohl es ein faszinierender Anblick war, wurde der Hunger irgendwann übermächtig, und die beiden Freunde beschlossen in der Vorstadt etwas essen zu gehen. Auf dem Weg nach unten kam ihnen eine Gruppe von Offizieren zu Pferd entgegen, die am Anleger einem der Kriegsschiffe entstiegen waren. Im Näherkommen erkannte Caius seinen Onkel Silanus. Während die anderen plaudernd das Tempo verlangsamten, löste sich Silanus aus der Gruppe und hielt auf die beiden Jungen zu. Er trug eine Paradeuniform und ritt einen nervösen Grauschimmel. Wie immer in Gesellschaft seiner Kollegen unterdrückte er auch diesmal sein affektiertes Gehabe fast vollständig.
Nachdem er Caius und Lucius begrüßt hatte, blickte er über die Kolonne, die ratternd, trampelnd und schnaubend das Lager verließ. »Das ist ein Anblick, was?« Er klang wie ein Tanzlehrer, dessen Schüler bei einer öffentlichen Darbietung brillierten. »Bis zum Spätnachmittag sind alle drüben. Zwei Meilen von hier mündet die Lupia ein. Sie schleppen die Kähne flussaufwärts bis Castra Lupiana.«
»Wie viele Boote mögen das sein?«, fragte Caius.
»Sechshundertfünfzig«, kam blitzschnell die Antwort. »Aber es werden noch mehr. Die Lupia ist zu eng für die sperrigen Kähne. Sie müssen unterwegs auf kleinere Boote umladen.«
»Und was machen wir?«, fragte Caius. Wir hätten uns vielleicht früher danach erkundigen sollen, dachte er.
Silanus schien sich über ihre Planlosigkeit nicht weiter zu wundern. »Ihr solltet einen Transportkahn mieten und morgen früh übersetzen. Anschließend empfehle ich euch die Uferstraße an der Lupia, die ist schon einigermaßen ausgebaut. Dann seid ihr schneller als diese lahmen Kähne und bekommt noch eine vernünftige Unterkunft. Wenn die drei Legionen da sind, wird das Lager aus allen Nähten platzen.«
»Können wir unterwegs irgendwo übernachten?«
»Nein. Fahrt, bis ihr da seid. Das ist sicherer. Wenn ihr nicht aufgehalten werdet, seid ihr morgen Abend im Lager.«
»Nimmst du auch die Straße?«
Silanus schnaubte und warf den Kopf hoch, und im gleichen Augenblick tat sein Pferd das Gleiche, was ziemlich komisch aussah. »Natürlich, oder meint ihr, ich quetsche mich auf einen dieser Kähne und lasse mir von den schwitzenden Trampeltieren da auf die Füße treten? Ich fahre mit Varus und ein paar anderen vom Stab. Aber ich kann euch nicht mitnehmen. Wir haben unterwegs noch was zu erledigen. Ihr seid aller Wahrscheinlichkeit nach also vor uns dort. Wenn ihr ankommt, meldet euch beim Präfekten Servius Tullius Onager und sagt, ihr kommt von mir.« Damit verabschiedete sich Silanus, gab seinem tänzelnden Pferd die Sporen und sprengte hinter seinen Begleitern her.