Beim Anblick des gewaltigen Lagers erschien ihr der Plan ihres Cousins, in den er sie vor ihrem Aufbruch in groben Zügen eingeweiht hatte, geradezu wahnwitzig. Zwölftausend bis an die Zähne bewaffnete Legionäre mit der ganzen zugehörigen Militärmaschinerie, dazu die Kavallerie und die Hilfstruppen, von denen noch gar nicht sicher war, auf welcher Seite sie am Ende stehen würden. Konnte ein solches Unternehmen überhaupt gelingen? Und selbst wenn es klappte – würden die Römer sich nach einer Niederlage, wie verheerend sie auch sein mochte, tatsächlich geschlagen geben? Oder würde der Hinterhalt nicht erst recht zum Anlass für einen gewaltigen Krieg werden, an dessen Ende die Vernichtung ihres ganzen Stammes stand? Wie viele ihrer Verwandten und Freunde würden dabei ihr Leben lassen müssen? Würde Irmin am Ende selbst in einem Käfig nach Rom gebracht und im Zirkus vor den Augen einer blutrünstigen Menge abgeschlachtet werden wie der kleine Bär, der vor ein paar Tagen von diesem Corvus verschleppt worden war? Sie machen es wie beim Zureiten von Pferden. Wenn der Gaul dich abwirft, musst du sofort wieder aufsteigen. Das waren Irmins Worte gewesen. Und jetzt war sie hier mit einem Auftrag, der vielleicht mitentscheidend war für das Wohl und Wehe ihres Stammes. Als sie aufgebrochen war, war sie stolz gewesen, dass man ihr eine so wichtige Aufgabe übertragen hatte. Jetzt aber fühlte sie sich dieser nicht im Mindesten gewachsen.
Auf der anderen Seite der Siedlung zog sich eine Straße hin, die schnurgerade am Wasser entlangführte, in einiger Entfernung eine steil über dem Fluss aufragende Anhöhe erklomm und vor dem Tor einer weiteren Befestigungsanlage endete: das Lager für die Hilfstruppen, das ebenfalls von einem Graben und einem mit Türmen bewehrten Wall umgeben war. Die Straße wurde rechts von fremdartigen Gräbern in allen Formen und Größen gesäumt, in denen die in den letzten Jahren im Dienst ums Leben gekommenen Soldaten beigesetzt waren. Wenn sie schon ihre Toten hier bestatten, dachte Fastrada, dann sind sie sich ihrer Sache ziemlich sicher.
Eine Gestalt riss sie aus ihren Gedanken. Es war ein Junge in ihrem Alter, nach Aussehen und Kleidung eindeutig ein Römer, der anscheinend aus dem Hauptlager gekommen war und sich in schlenderndem Schritt genähert hatte. Offensichtlich hatte er nichts zu tun. Er trug eine weiße Tunika und teure Schuhe aus Ziegenleder. Wie ein Soldat sah er nicht aus, und auch sein Auftreten entsprach nicht dem linkischen und gleichzeitig anmaßenden Gebaren, das diese jungen Legionäre an den Tag legten, die man irgendwo in Italien mitten aus ihrem beschaulichen und langweiligen Alltag heraus rekrutiert hatte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Fastrada diese Soldaten hatte beobachten können, war ihr die unerträgliche Überheblichkeit aufgefallen, mit der sie den einfachen Leuten aus ihrem Volk gegenübertraten – eine Überheblichkeit, die sich auf nichts gründete als auf die Tatsache, dass sie hier fern der eigenen Heimat Besatzer spielten und ihr kümmerliches Selbstbewusstsein durch Großmäuligkeit gegenüber denen aufwerteten, die sich nicht wehren konnten, während sie ihren Vorgesetzten gegenüber katzbuckelten. Dieser Junge aber war anders. Der selbstbewusste und neugierige Blick, mit dem er die Marktstände taxierte, wanderte jetzt in ihre Richtung. Fastrada schaute angestrengt und möglichst unbeteiligt an ihm vorbei auf das Lagertor. Aus dem Augenwinkel schien es ihr, als ob er sie musterte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, und mehrmals musste sie sich zwingen, nicht wieder zu ihm hinzusehen. Schließlich entglitt ihr einen Moment lang die Kontrolle, und ihre Blicke trafen sich doch. Er grinste. Was gab es da zu grinsen? Sie spürte, wie sich die senkrechte Falte in ihre Stirn grub, über die Irmin sich oft amüsiert hatte. Auch der junge Römer schien belustigt. In seinen Augen lag etwas Provozierendes. Verlegenheit brandete in ihr auf, gefolgt von Trotz. Als er unschlüssig auf sie zuging, wurde ihr klar, dass er sie ansprechen würde. Instinktiv beschloss sie so zu tun, als verstünde sie ihn nicht.
Drei Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und blickte scheinbar gleichgültig auf die Waren, die sich auf ihrem Karren stapelten. Schließlich zeigte er auf einen Korb mit Äpfeln. »Was kosten die?«, fragte er in seiner Sprache.
Im ersten Augenblick empfand sie die Selbstverständlichkeit als anmaßend, mit der er vorauszusetzen schien, dass sie ihn verstand. Im gleichen Moment aber wurde ihr klar, dass man nichts verkaufen konnte, wenn man nicht bereit war, den Kunden irgendwie entgegenzukommen. »Einen Quadrans«, sagte sie schnell. »Für zehn Stück.«
»Einzeln gibt es die nicht?« Er lächelte.
Sie wollte zurücklächeln, bezwang sich aber. Sie hatte die scheinbar absurde Erfahrung gemacht, dass Leute, vor allem Männer, die etwas von ihr wollten, umso zutraulicher wurden, je deutlicher sie sie abwies. »Nein«, erwiderte sie. »Wenn ich sie einzeln verkaufen würde, dann stünde ich in einem Monat noch hier.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie sich für die Bauerntochter, die sie zu sein vorgab, viel zu gut ausgedrückt hatte. »Die Erbsen sind übrigens auch nicht einzeln verkäuflich«, setzte sie nach und konnte sich das Lachen nun kaum noch verkneifen.
»Ich will aber nur einen«, beharrte er. »Ein Apfel am Tag, Arzt gespart.« Es schien ein Sprichwort zu sein. Dann erhellte eine plötzliche Eingebung sein Gesicht. »Ich zahle sofort und hole mir die anderen in den nächsten Tagen«, sagte er und lächelte herausfordernd.
Schön eingefädelt, dachte Fastrada. Von allen Annäherungsversuchen, die sie bisher erlebt hatte, war dieser allerdings einer der unaufdringlicheren. »Morgen bin ich wahrscheinlich nicht mehr da«, sagte sie schnell. Ein Anflug von Bedauern streifte sie, der sie selbst befremdete.
»Das ist jammerschade.«
»Warum? Äpfel bekommst du überall.«
Die Antwort hätte nur ein oberflächliches Kompliment sein können, das er sich offenbar nicht zu machen traute, und so wechselte er das Thema. »Woher kannst du unsere Sprache so gut?«
»Man schnappt hier und da was auf«, erwiderte sie vage. »Ihr seid ja nicht erst seit gestern im Land.«
»Trotzdem. Ich habe bisher nur einen Germanen getroffen, der so gut Latein konnte wie du. Und das war bei mir zu Hause in Rom. Ein Cherusker.«
Fastrada wurde hellhörig, sie konnte ihre Neugier nicht mehr im Zaum halten. »Wer soll das denn gewesen sein?«, fragte sie.
»Chariomer war sein Name. Er war etwas älter als ich, aber nicht viel.«
Fastrada war sich nicht sicher, ob sie den Namen schon einmal gehört hatte. »Was hat dieser Chariomer in Rom gemacht?«, fragte sie.
»Sein Vater hat ihn als Geisel zu uns geschickt. Er hat dort viel gelernt.«
Fastrada spürte, dass die letzte Bemerkung sie störte. Sie klang überheblich, obwohl sie freundlich gemeint war. »Von euch kann man ja auch furchtbar viel lernen«, gab sie bissig zurück.
Er überhörte den scharfen Unterton. »Wie man an dir sehen kann.«
»So schwierig ist eure Sprache nun auch wieder nicht.«
»Ist eure denn schwieriger?«
»Wie soll ich das beurteilen? Versuch doch sie zu lernen und sag mir hinterher, ob sie schwierig ist.«
»Bringst du mir was bei?«, fragte er schelmisch und sah ihr in die Augen.
Fastrada konnte sich nicht mehr verbieten ihn anzulächeln. Sie nahm eine Erbse aus einem der Körbe und hielt sie hoch. »Erbse«, sagte sie in ihrer Sprache. Als er das Wort nachsprach, kniff sie kritisch die Augen zusammen und sagte es noch einmal. Er wiederholte die Vokabel mehrmals, bis sie mit der Aussprache zufrieden war. »Nicht schlecht für den Anfang.« Sie griff nach einem Apfel. »Apfel.«
Er sprach ihr erneut nach, dann legte er nachdenklich die Stirn in Falten. »Merkwürdig«, murmelte er. Bei uns gibt es eine Stadt, die heißt Abella. Hört sich fast genauso an wie euer Wort. Die Stadt ist bekannt, weil sie dort die besten Äpfel von ganz Italien züchten.«