»Warte, bis du unsere probiert hast.«
»Also kriege ich einen?«
Sie tat, als ob sie zögerte. »Mühe hast du dir ja gegeben.« Dann reichte sie ihm den Apfel. Er fummelte an einem kleinen Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing. »Willst du mich beleidigen?« Ihre Bemerkung war im Spaß gemeint gewesen, hatte aber ein wenig zu schroff geklungen.
Er hielt inne. »Bei uns bezahlt man üblicherweise, was man kauft.« Er schaute sie unsicher an, doch als er sah, dass sie wieder lächelte, lockerten sich auch seine Mundwinkel etwas. »Wir haben da ein Sprichwort …«
»Du hast es mit den Sprichwörtern, oder?«
Er verdrehte die Augen, als würde er von einem unsichtbaren Lehrmeister traktiert. »In der Schule stopfen sie uns damit voll«, erwiderte er fast entschuldigend.
»Ihr Römer hört euch gerne selber reden, was?«
»Die Lehrer jedenfalls«, sagte er. »Sie erschlagen einen mit ihren Weisheiten.«
Fastrada musste plötzlich an ein paar Verse denken, die Irmin ihr beigebracht hatte. Sie stammten aus einem Buch, das in Rom angeblich jeder kannte. »Nicht Schwert, nicht Giftgebräu wird dermaleinst dich töten …«, zitierte sie aus der Erinnerung.
Der Römer starrte sie mit offenem Mund an. Dann stieg er auf den Text ein und warf ihr den folgenden Vers zurück: »Kein schleichend Zipperlein samt Hals-und Lungennöten …«
Fastrada kicherte und erwiderte: »Ein Schwätzer bringt dich um, fällst du ihm einst zur Beute …«
»Drum, wirst du groß, sei klug: flieh redewütige Leute!«
Sie prusteten beide gleichzeitig los.
»Es ist nicht zu fassen!«, stieß er lachend hervor. »Du kennst Flaccus!«
In diesem Moment rief jemand vom Lagertor aus einen Namen. Der junge Römer blickte verwundert über die Schulter. Zwischen den Wachsoldaten war eine Gestalt aufgetaucht. An der Statur erkannte Fastrada einen jungen Mann.
Er winkte, und der Römer winkte zurück, bevor er sich wieder zu ihr drehte. »Das ist mein Freund Lucius«, sagte er, als sei er ihr eine Erklärung schuldig. Dann wandte er sich etwas abrupt zum Gehen. »Wir sehen uns morgen!«, rief er noch, bevor er den Hügel hinauflief auf den anderen zu, der jetzt stehen geblieben war. Fast kam es Fastrada vor, als wollte er ihn abfangen. Als die beiden zusammentrafen, wechselten sie ein paar Worte, anschließend verschwanden sie im Lager.
Fastrada blieb allein bei ihrem Karren zurück. Merkwürdige Begegnung, dachte sie. Dieser Junge hatte eine Art an sich, die nichts mit der flegelhaften Arroganz der Römer zu tun hatte, die sie bis dahin getroffen hatte. Und irgendwie hoffte sie, dass er noch einmal wiederkommen würde.
Während sie weiter über das Zusammentreffen nachdachte, schwang in der Ferne das Tor vom Lager der Hilfstruppen auf. Ein paar Reiter erschienen und trabten auf die Straße, die den Fluss säumte. Kundschaft, dachte Fastrada. Vergiss nicht, warum du eigentlich hier bist.
17
Caius zwang sich, nicht hinter sich zu blicken, während er mit Lucius, der ihm offenbar etwas mitteilen wollte, das Lager betrat. Er spürte einen köchelnden Unmut über seinen Freund, der mal wieder genau zum falschen Zeitpunkt erschienen war. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass diese Regung höchst ungerecht war. Kurz überlegte er, ob er Lucius von seiner Begegnung erzählen sollte, aber etwas in ihm sträubte sich dagegen. Lucius würde natürlich darauf bestehen, dass sie unverzüglich zum Markt zurückgingen. Er würde sich aufführen wie ein Gockel und die junge Germanin mit seiner dreisten und angeberischen Art vor den Kopf stoßen. Caius sah seinen Freund schon vor sich: das breite Grinsen, die prahlerische Pose, die Gesten, mit denen er tat, als gehörte ihm die ganze Welt. Dazu die Sprüche, dutzendmal erfolgreich erprobt auf den Plätzen von Rom. Jungen wie Lucius kamen an, weil sie das noch durch keine Etikette gezügelte maßlose Selbstbewusstsein der nachwachsenden römischen Oberschicht versprühten, das eine gute Partie verhieß, sofern man sich als Mädchen der Illusion hingab, nicht Opfer, sondern Auserwählte zu sein. Caius hatte dieses Spiel selbst oft genug miterlebt. Dieses germanische Mädchen aber, von dem er noch nicht einmal den Namen kannte, erschien ihm doppelt ungeeignet, dem unaufrichtigen Gebalze seines Freundes ausgesetzt zu werden: Sie war zu kostbar, um es sich mit ihr zu verderben, indem man sie vor den Kopf stieß. Und sie war zu selbstbewusst, als dass sie es sich gefallen lassen würde. Wenn ich Lucius das Feld überlasse, dann sehe ich sie nicht wieder, dachte Caius.
Sie gingen ein paar Schritte auf der Lagerstraße, und während Lucius ein wichtiges Gesicht aufsetzte, beschloss Caius, seine neue Bekanntschaft zunächst für sich zu behalten. Er kam sich dabei unehrlich vor und bekämpfte diese Empfindung, indem er sich einredete, es sei ja nichts Erzählenswertes passiert. Er hatte sich auf dem Markt umgesehen und ein paar Worte mit einer Bauerntochter gewechselt. Mehr nicht. Doch es blieb das ungute Gefühl, Geheimnisse vor seinem Freund zu haben, zumal er nichts lieber getan hätte, als sofort wieder umzukehren zu diesem faszinierenden Mädchen.
Lucius riss ihn aus seinen Gedanken. »Wovon träumst du?«, fragte er vorwurfsvoll und hieb Caius den Ellenbogen in die Seite. »Weißt du, wer mich eben geweckt hat?«
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Caius.
»Einer der Sekretäre des Statthalters. Wir sind heute Abend in der Kommandantur eingeladen! Wie Silanus gesagt hat.«
Caius zog die Augenbrauen hoch. »Allein oder in großer Gesellschaft?«
»Soweit ich das verstanden habe, allein.«
Caius pfiff durch die Zähne. »Vielleicht kommen wir dem Rätsel des Statthalters einen Schritt näher.«
»Hör mal«, sagte Lucius etwas zögerlich. »Ich habe mir da was überlegt.«
»Und zwar?«
»Von Varus werden wir so nichts erfahren. Oder meinst du, er macht bei einem Becher Wein und ein paar Austern plötzlich eine Kiste auf und fragt uns, ob wir mal einen Blick auf das größte Geheimnis des Imperiums werfen wollen?«
»Das sicher nicht«, murmelte Caius.
»Eben. Er wird uns nur ein paar unverbindliche Fragen stellen und wir werden ein paar unverbindliche Antworten geben. Von selbst wird er das Thema wohl kaum anschneiden.«
»Und du hast dir überlegt, wie wir das Problem lösen?«, fragte Caius.
»Genau.«
»Da bin ich aber neugierig.«
Lucius lächelte übertrieben listig und machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. Die beiden waren auf halbem Weg zu ihrer Unterkunft auf der Hauptstraße des Lagers stehen geblieben. Rechts von ihnen lagen die Werkstätten, in denen Hochbetrieb herrschte. Die typischen Arbeitsgeräusche von Schmieden und Zimmerleuten erfüllten die Luft: das abwechselnd helle und dumpfe Schlagen der Hämmer, das Schnauben der Blasebalge und das aufgeregte Ratschen der Sägen.
»Spuck’s aus!«, drängte Caius.
»Wir sagen ihm, dass wir den Brief gefunden haben, und erzählen alles, was wir wissen.«
Caius war entsetzt. »Du bist völlig übergeschnappt!«
»Aber ganz und gar nicht, mein lieber Caius.«
»Das können wir nicht machen!«
Lucius blieb ungerührt. »Warum nicht?«
Caius dachte angestrengt nach. Warum eigentlich nicht? Konnte es nicht sein, dass sie mit der schonungslosen Wahrheit weiterkamen? Hatte Lucius recht?
»Ich habe gestern Abend lange darüber gegrübelt und hatte zuerst die gleichen Zweifel wie du. Und weißt du, wieso? Weil Varus die höchste Autorität weit und breit ist. Statthalter des Augustus, Oberbefehlshaber der Rheinarmee und so weiter. Wir schämen uns, Mitwisser der Schwächen eines solchen Mannes zu sein. Wir empfinden es als ungebührlich, ihn damit zu konfrontieren. Wir wollen nicht sehen, wie er peinlich berührt vor uns zusammensackt.«