»Für Rullianus wäre das ein Fest.«
»Gerade deshalb müssen wir Varus warnen. Denk mal nach! Wenn die Sache wirklich so brisant ist, dann ist jemand wie Rullianus in der Lage, ein Unheil anzurichten, das wir gar nicht ermessen können!«
»Und Varus?«
»Du hast den Brief doch gelesen! Er will die Sache in Ordnung bringen. Das vergiftete Geschenk des Schicksals, er will es in Rom abliefern und dann nichts mehr damit zu tun haben. Und darum ist es fast schon unsere Pflicht, ihn zu warnen. Wir erzählen ihm, was wir wissen. Nichts als die Wahrheit. Damit beweisen wir, dass wir auf seiner Seite stehen. Ob er etwas gegen Rullianus unternimmt, ist seine Sache. Und nebenbei bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als uns dankbar zu sein.«
Caius überlegte eine Weile, dann sagte er: »Du spekulierst darauf, dass Varus uns aus Dankbarkeit ins Vertrauen zieht.«
Lucius grinste. »Natürlich. Nachdem wir die eine Hälfte der Wahrheit schon selbst herausgefunden haben, könnte der Herr Statthalter uns die andere eigentlich hübsch garniert auf dem Silbertablett servieren.«
»Und wenn er’s nicht tut?«
»Dann sind wir auch nicht dümmer als vorher.«
Caius fielen keine weiteren Einwände ein. Je länger er über die Idee seines Freundes nachdachte, desto besser gefiel sie ihm. Die Flucht nach vorn war wahrscheinlich wirklich der einzige Weg, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Den Rest des Vormittags verbrachten die beiden mit einem ausgedehnten Frühstück. Dabei schweifte Caius mit seinen Gedanken immer wieder zu dem Mädchen, das wahrscheinlich noch draußen vor dem Tor stand und Gemüse verkaufte. Einmal war er kurz davor, seinem Freund von der Begegnung zu erzählen, doch dann biss er sich im letzten Augenblick auf die Zunge. Als sie nach dem Essen schließlich das Lager verließen, um sich am Fluss umzusehen, nahmen sie das Tor an der Südseite. Die große Wiese hatte sich in der Zwischenzeit belebt. Eine Einheit germanischer Hilfstruppen zu Pferd war eingetroffen. Es mussten um die fünfhundert Reiter sein, die gerade ihr Lager errichteten. Die meisten der Gestalten sahen verwegen aus und machten einen ziemlichen Lärm, während sie Zelte aufbauten und Pflöcke in den Boden rammten. Eine Gruppe war damit beschäftigt, ein Fass aufzumachen, ein paar andere tränkten ihre Pferde im Fluss. In der Ferne sah Caius den Markt, doch er konnte nicht erkennen, ob das Mädchen noch da war.
Am späten Nachmittag erschienen hinter einer Flussschleife im Westen die ersten Kähne der Transportflotte, die vor zwei Tagen in Castra Vetera vor ihren Augen den Rhein überquert hatte. Es wiederholte sich ein ähnliches Schauspiel wie beim Aufbruch, nur in umgekehrter Reihenfolge: Nach dem Ausladen traten Kolonnen von Legionären und Trosswagen den Weg ins Hauptlager an, während andere zwischen diesem und dem Hilfstruppenkastell ein Marschlager aufschlugen, einen Graben davor aushoben und eine Palisade darumzogen. Nach sechs Stunden war alles untergebracht und die ganze Umgebung des Lagers wimmelte von Menschen. Vor allem in der kleinen Siedlung am Fluss drängelten sich Trossleute, um Material für Reparaturen, Hausrat und Lebensmittel zu besorgen. Soldaten der Hilfstruppen schlenderten in allen Sprachen schwatzend umher und das ganze Flussufer war gesäumt von Menschentrauben: Frauen wuschen Wäsche, Reiter tränkten Pferde, und Sklaven schöpften unablässig Wasser und schleppten Kessel und Schläuche ins Lager. Einmal wäre es fast zu einer Prügelei zwischen zwei größeren Gruppen von offensichtlich angetrunkenen germanischen Söldnern gekommen, die im letzten Moment durch das Erscheinen eines stämmigen Centurios unterbunden werden konnte.
Hinter dem Hauptlager war ein Exerzierplatz abgesteckt worden, auf dem zwei Kohorten der XIX. Legion mit Holzschwertern aufeinander einschlugen und Wurfspeere auf Strohpuppen schleuderten. Caius und Lucius bahnten sich ihren Weg durchs Gedränge und beobachteten das Treiben. Irgendwann kamen sie auch an dem Markt vorbei, der inzwischen auf mehr als hundert Verkaufsstände angeschwollen war. Aus den Augenwinkeln hielt Caius Ausschau nach dem Mädchen. Doch sie war nicht mehr da.
Am späten Nachmittag begaben sich die beiden zurück in ihre Unterkunft im Hauptlager, um sich für ihren Besuch bei Varus umzuziehen. Bei einem Becher Wein gingen sie noch einmal den Brief durch, den sie bei dem ermordeten Boten gefunden hatten. Caius war nicht wohl in seiner Haut, und selbst Lucius, sonst die Unbekümmertheit in Person, wirkte nachdenklich und kaute an seiner Unterlippe herum.
»Wir sollten so vorsichtig wie möglich vorgehen«, sagte er. »Wir müssen versuchen sein Vertrauen zu gewinnen, bevor wir das Thema anschneiden. Und das geht natürlich nur dann, wenn wir mit ihm allein sind.«
»Was ist, wenn wir ihm einfach die Schatulle zurückgeben und so tun, als wüssten wir nichts von dem Geheimfach?«, fragte Caius vorsichtig.
»Unsinn!«, rief Lucius. »Erstens: Woher sollen wir wissen, dass der Brief von ihm ist, wenn wir ihn nicht gelesen haben. Zweitens weiß er selbst vielleicht gar nichts von dem Geheimfach, und dann stehen wir da und müssen erklären, dass wir ihn angelogen haben. Außerdem können wir nicht mit der Schatulle in der Hand zu ihm reingehen, er würde sofort danach fragen.«
Caius schwieg. Seine Idee war in der Tat ziemlich unsinnig, und er begriff, dass er sie nur geäußert hatte, weil etwas in ihm hoffte, der peinlichen Situation doch noch zu entgehen. Er ärgerte sich darüber, sich diese Blöße gegeben zu haben, und er dachte an die Worte seines Vaters. Manchmal musste man unbequeme Dinge aussprechen.
Während Lucius wieder grübelte, versuchte Caius sich zu entspannen. Uns kann nichts passieren, dachte er. Im Gegenteil – ihre Sicherheit als Mitwisser seines Geheimnisses war für Varus von größter Bedeutung. Wenn ihnen etwas zustieß, würde es unangenehme Nachforschungen geben.
»Wir sollten die Schatulle erst mal hierlassen«, sagte Caius schließlich.
Lucius nickte langsam. Dann rollte er den Brief wieder ein, steckte ihn in die Lederhülle und schob diese in eine Satteltasche, die er hinter anderen Gepäckstücken unter seinem Bett verstaute.
Sie saßen noch eine Weile am Tisch und redeten über dies und das. Schließlich erschienen zwei Liktoren des Statthalters in der Tür und meldeten, dass Varus bereit sei sie zu empfangen. Sie erhoben sich und traten ins Freie. Einem Instinkt folgend, ging Caius nach nebenan in die Unterkunft ihrer Begleiter und bat einen der Leibwächter, während ihrer Abwesenheit die Tür ihrer Herberge im Auge zu behalten. Dann machten sie sich auf den Weg durch die belebten Straßen des Lagers.
Nachdem sie die Kommandantur, die im Zentrum der Anlage aus gekalktem Ziegelmauerwerk errichtet war, über einen bewachten Eingang betreten und einen Innenhof durchschritten hatten, stand Varus auf einmal wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen in der Tür eines Besprechungszimmers und streckte ihnen beide Hände entgegen. Er trug eine weiße Tunika mit Goldborte und war augenscheinlich bei bester Laune. Die Liktoren, die die beiden Freunde in das Gebäude begleitet hatten, zogen sich zurück.
»Da sind ja die beiden Abenteurer, von denen der ganze Stab spricht«, sagte Varus lächelnd und trat zur Seite, um sie einzulassen. Das fensterlose Zimmer war schlicht und nicht besonders groß. Brennende Fackeln steckten in Halterungen in den Wänden und warfen flackernde Schatten kreuz und quer durch den Raum. Drei einfache Klinen standen um einen Tisch gruppiert, darauf eine Karaffe und drei Becher. Nachdem der Statthalter eigenhändig die Tür geschlossen hatte, machte er es sich auf der größten der drei Liegen bequem, die mit purpurfarbenem Tuch bespannt war. Die beiden Freunde nahmen auf einen Wink von ihm ebenfalls Platz. Während Caius noch angestrengt überlegte, wie er ein unverfängliches Gespräch beginnen sollte, hob Varus seinen Becher und trank ihnen zu.