Wie um Zeit zu gewinnen, nippte Caius nachdenklich an seinem leicht verdünnten Wein. Auch Lucius wirkte unschlüssig, doch bevor ein unangenehmes Schweigen entstehen konnte, eröffnete ihr Gastgeber souverän die Konversation mit einem anerkennenden Redefluss über Quintus Cornelius Castor, den er offenbar bei verschiedenen früheren Gelegenheiten kennengelernt hatte. Dabei erwies er sich als eleganter und einnehmender Plauderer mit ausgeprägtem Gespür für die Gemütslage seiner Gesprächspartner. Er schien die Unsicherheit der beiden Gäste zu bemerken und bemühte sich die Atmosphäre zu lockern.
»Deinem Vater soll es ja inzwischen schon viel besser gehen«, sagte er zum Abschluss seiner Lobeshymne. »Es war eine gute Entscheidung, ihn als Sondergesandten einzusetzen.« Varus machte eine Pause, und ein dünnes Lächeln erschien auf seinem Mund. »Wenngleich diese etwas unübliche Maßnahme im Stab für einige Diskussionen gesorgt hat. Es gibt Leute, die das als eine ungebührliche Einmischung in die Belange des Militärs betrachten.«
Zum Beispiel ein gewisser Rullianus, dachte Caius. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Lucius das Gleiche dachte, doch zunächst sagte keiner von ihnen etwas.
»Ich persönlich sehe das anders«, fuhr Varus fort. »Wir werden hier mit Problemen konfrontiert, die nur in Zusammenarbeit zwischen Zivilverwaltung und Armee gelöst werden können. Und diese Zusammenarbeit klappt nicht immer reibungslos. Aber wie ich hörte, warst du ja selbst bei der Besprechung in Rom dabei.«
Caius nickte und fragte sich, wie weit Varus über den Inhalt des Gesprächs beim Princeps informiert war, bei dem ja auch seine eigenen Fähigkeiten erörtert worden waren. Varus lächelte. »Es passt zu Castor, dass er seinen Sohn auf diese eigenwillige Art auf eine Karriere vorbereitet«, sagte er. »Er war schon immer sehr skeptisch gegenüber den eingefahrenen Pfaden, auf denen die römischen Institutionen und ihre Vertreter wandeln. Umso mehr bedaure ich, dass er nicht selbst kommen konnte. Wenn du ihm schreibst, dann sag ihm bitte, dass ich ihn mit offenen Armen empfange, falls er im Frühjahr so weit wiederhergestellt sein sollte, dass er die Reise antreten kann. Leute wie er werden hier gebraucht. Leute, die über den Horizont des scheinbar Naheliegenden hinausdenken können. Gerade beim Militär haben wir davon nämlich nicht so viele.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er mit etwas leiserer Stimme hinzu: »Karrieren sind berechenbarer, seit das Erobern für uns zur Routine geworden ist. Die meisten glauben, was sich in Syrien, in Ägypten und sogar in Gallien bewährt hat, das funktioniert auch hier in Germanien. Sie denken nur in Selbstverständlichkeiten. Das war in den Tagen der Republik noch etwas besser. Aber diese Bemerkung bleibt bitte unter uns.« Er lächelte, und Caius fühlte, wie seine Anspannung, die sich schon angesichts der schmeichelhaften Töne über seinen Vater gelockert hatte, fast ganz von ihm abfiel. Die letzten Worte des Statthalters riefen ihm überdies auf merkwürdige Weise ins Gedächtnis, was Augustus auf dem Dach zu ihm gesagt hatte. Das war jetzt zwei Monate her, und während die Erinnerung an die Begegnung mit dem Princeps wie der Widerhall eines früheren Lebens erschien, waren dessen Worte zu diesem Thema ihm noch genau in Erinnerung. Dein Vater ist ein Mann, für den nichts selbstverständlich ist, hatte der Princeps gesagt. Und Germanien ist ein Land, in dem nichts selbstverständlich ist.
Nach einer kurzen Pause wandte sich der Statthalter an Lucius, als wollte er die ungleiche Verteilung seiner Aufmerksamkeit wettmachen. Es begann ein ausgedehntes Gespräch über den Abbau von Bodenschätzen in der Provinz und über die komplizierten Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Erschließung des Landes und der Gewöhnung seiner Bewohner an die juristischen und fiskalischen Neuerungen, die damit nun einmal Hand in Hand gingen. »Natürlich kennen sie hier auch Gerichte«, dozierte Varus. »Aber es gibt keine Instanz, die deren Urteile vollstreckt. Und natürlich kennen sie auch Tribute. Doch für sie ist es unbegreiflich, dass man Abgaben zahlt, ohne eine Klinge am Hals zu haben.«
»Das kann ja heiter werden«, murmelte Lucius.
Varus hat viel mehr begriffen, als der Princeps meint, dachte Caius.
Der Statthalter machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte versöhnlich. »Es gibt auch Fortschritte«, sagte er. »Ihr habt ja selbst das Feldlager draußen gesehen. Zwei Drittel meiner Hilfstruppen bestehen inzwischen aus Germanen. Und es sind die verlässlichsten, die ich habe. Ich hörte, dass es heute Mittag fast eine Massenschlägerei bei ihnen gegeben hätte, die von einem unserer Centurionen geschlichtet wurde. Solche Vorfälle sind bezeichnend für das, was hier im Gange ist.«
Sie nippten erneut an ihren Bechern, dann wandte Varus sich wieder an Caius. »Wie mir zu Ohren kam, war auch Rullianus bei eurer Besprechung in Rom zugegen.« Caius erstarrte innerlich, ließ sich allerdings nichts anmerken. Was kommt denn jetzt, dachte er. »Hat Rullianus sich über die Hilfstruppen geäußert?«, fragte Varus nun etwas bestimmter. »Hattest du den Eindruck, dass er Zweifel an ihrer Loyalität hegt?«
Die Frage war von einer überraschenden Direktheit, und Caius fühlte, wie seine Gedanken rasten. »Es gab da so eine Bemerkung«, erwiderte er vage, um Zeit zu gewinnen. »Sie hätten in der Vergangenheit oft genug die Seite gewechselt oder so ähnlich.«
Varus nickte langsam. »Das haben sie in der Tat. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es in unseren eigenen Reihen Leute gibt, um deren Loyalität es nicht besser bestellt ist.«
Caius und Lucius tauschten einen Blick und nickten sich zu. Caius wartete kurz, ob der Statthalter noch etwas sagen wollte.
Aber Varus schwieg, griff wieder nach seinem Becher und holte tief Luft. Er schien zu überlegen, wie er das Thema wechseln könnte, denn je schwerer die Stille im Raum lastete, desto mehr Bedeutung schienen seine letzten Worte zu bekommen.
Auch Lucius atmete jetzt hörbar ein. »Es gibt da eine Sache, die du wissen musst«, sagte er schließlich und schaute dem Statthalter mit einer Selbstsicherheit in die Augen, die auf überwältigende Weise erwachsen wirkte. Er blickte zu Caius und der nickte erneut. Dann fuhr Lucius fort: »Wir haben auf dem Weg zum Rhein bei einer Raststation in den Alpen eine Entdeckung gemacht. In einem kleinen Wald hinter dem Gasthaus lag ein Toter ohne Kopf. Es war ein Kurier auf dem Weg nach Rom. Ein Bote des Princeps.«
Bei diesen Worten setzte sich der Statthalter mit einem Ruck kerzengerade auf und schwang dabei die Füße auf den Boden. Seine Augen verengten sich. Er hockte auf der Kline wie auf einem Stuhl und durchbohrte Lucius mit seinem Blick. »Ja und?«, stieß er leise und ungeduldig hervor.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach war Rullianus zu dem Zeitpunkt vor Ort, als der Bote ermordet wurde. Als wir ankamen, fuhr er nämlich gerade ab.«
»Woher wisst ihr, dass es ein Bote des Princeps war?«, wollte Varus wissen. Es klang, als wollte er die Geschichte nicht glauben.
»Caius hat ihn erkannt. Ihm fehlten zwei Finger an einer Hand. Außerdem lag neben ihm eine Schatulle, wie sie die Kuriere des Princeps für Briefe benutzen.«
Varus war bei der Kurzbeschreibung des Boten bleich geworden. »Warum hat der Mörder die Schatulle nicht mitgenommen?«, fragte er, und Caius wusste, worauf er hinauswollte. »War sie leer?«
Lucius blickte Caius Rat suchend an, der daraufhin das Wort ergriff. »Wie man es nimmt«, sagte er. »Der Mörder hat jedenfalls nicht gefunden, was er gesucht hat.«
»Aber wir«, fiel Lucius wieder ein. Ein Hauch von Genugtuung lag in seiner Stimme.
Der Ton kam Caius unangebracht vor, und er warf seinem Freund einen ärgerlichen Blick zu, bevor er weitersprach: »Die Schatulle enthielt ein Geheimfach mit einem Brief von dir an den Princeps.« Und als müsste er den Statthalter wegen der Indiskretion im Voraus beschwichtigen, fuhr er fort: »Und als wir den Brief nun einmal in der Hand hatten …«