»… da habt ihr ihn natürlich auch gelesen«, ergänzte Varus und seufzte. Als müsste er seine durch die Offenbarung angeschlagene Autorität wiederherstellen, setzte er sich auf. Sein Blick wurde hart. »Weiß sonst noch irgendjemand von dem Brief?«, fragte er knapp.
»Nein«, antwortete Lucius.
»Und wo ist er jetzt?«
»In unserer Unterkunft«, erwiderte Caius.
»Dann holt ihn her. Sofort.« Der Ton des Statthalters war so scharf, dass selbst Lucius die Worte fehlten.
Sie erhoben sich eilig und gingen hinaus. Die Wachen ließen sie passieren, und bald waren sie wieder mitten im Gewühl der Soldaten und Handwerker auf dem Weg zu dem Block, in dem sie untergebracht waren.
»Wenn wir ihm den Brief geben, haben wir gar nichts mehr in der Hand«, maulte Lucius. Er war ungehalten über den schroffen Ton des Statthalters. »Er könnte ruhig etwas dankbarer sein!«
»Warte erst mal ab«, sagte Caius, der vom schnellen Gehen schon etwas außer Puste war. »Er will nur nicht, dass der Brief in die falschen Hände gerät. Ist doch wohl verständlich.«
»Meinst du, er verrät uns noch was?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wird er zugänglicher, wenn er hat, was er will.«
Sie standen am Anfang der Gasse, die zu ihrer Unterkunft führte. Caius erstarrte. »Wo ist die Wache?«, zischte er seinem Freund zu.
Lucius riss die Augen auf. Der Leibwächter, den Caius vor dem Eingang postiert hatte, war nicht zu sehen. Wie auf ein Kommando rannten sie los und stürzten in ihre
Unterkunft. Auf den ersten Blick war alles unverändert. Doch im nächsten Moment vernahmen sie aus der Vorratskammer, die von einem Vorhang abgetrennt wurde, ein dumpfes Stöhnen. Caius schob das schwere Leinentuch beiseite. Dahinter lag ihr Leibwächter auf dem Bauch. Seine Hände und Füße waren gefesselt. Caius drehte ihn auf die Seite. Der Mann hatte ein Tuch im Mund und konnte kaum atmen. Als Caius ihm den Knebel zwischen den Zähnen herauszog, begann er zu japsen und war zunächst nicht in der Lage, auch nur ein Wort hervorzubringen.
Während Caius sich noch an den Fesseln abmühte, stürzte Lucius, einer furchtbaren Ahnung folgend, zurück in den großen Raum und begann dort unter seinem Bett zu wühlen. Kurz darauf stand er wieder neben dem Vorhang, bleich vor Wut. Caius blickte auf. »Die Schatulle ist weg«, sagte Lucius tonlos. Dann hieb er mit der Faust wutentbrannt gegen den Türrahmen.
18
Am späten Nachmittag nach ihrem Auftritt als Bäuerin in Castra Lupiana stand Fastrada wieder vor dem Gehöft von Irmins Freund Batwin und zäumte das Maultier ab. Der Rückweg war weniger beschwerlich gewesen als der Hinweg, denn der Karren war wie leer gefegt gewesen und das Tier hatte ihn fast schon leichtfüßig über Stock und Stein nach Hause gezogen. Sie gab ihm einen Klaps und wandte sich dann dem Wagen zu, um die Säcke zusammenzulegen und die Körbe ineinanderzustellen, als seien selbst diese letzten Handgriffe ein unverzichtbarer Teil der Rolle, die sie Irmin zuliebe gespielt hatte.
Was sie vor dem Lager der Römer gesehen hatte, war gleichzeitig überwältigend und beklemmend gewesen. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass es auf der ganzen Welt so viele Menschen gab, wie an diesem einzigen Tag dort am Fluss aus den Booten geklettert waren. Vor ihren Augen war ein Lager entstanden, das zwanzigmal größer war als ihr Dorf, an dessen Palisade ihr Vater und die anderen Männer monatelang gearbeitet hatten. Wir gehen in den Wald und fällen Bäume, dachte sie. Die Römer nehmen ganze Wälder mit auf die Reise, Wälder aus Booten, Wälder aus Schanzpfählen und Katapulten, Wälder aus Menschen und Tieren, die sich über das Land bewegen, als würden sie von Wodan persönlich hin und her geschoben. Wie konnte Irmin glauben, dass er diese wandernden Wälder mit seinen Leuten einfach aus dem Hinterhalt abholzen konnte?
Sie hatte einmal gesehen, wie er mit seiner Schwadron zu einer Patrouille ausgeritten war. Die Gruppe war Fastrada wie eine riesige Streitmacht vorgekommen. Nach dem, was sie heute gesehen hatte, war diese Kavallerie nichts als ein kleiner Haufen mehr schlecht als recht bewaffneter Krieger.
Immerhin war ihre Aufgabe viel einfacher gewesen, als sie sich vorgestellt hatte. Wie der Fluss vor ihr die römischen Soldaten ausgespuckt hatte, waren aus dem Wald die Reiter der Hilfstruppen zu Hunderten herausgequollen, vor allem Brukterer und Marser, kaum Cherusker, was sie beruhigt hatte, denn von denen hätte sie sicherlich der eine oder andere wiedererkannt und es hätte Gerede gegeben. Dass sie Männern auffiel und im Gedächtnis blieb, das hatte sie bei früheren Gelegenheiten schon zur Genüge feststellen dürfen: herausfordernde Blicke, grinsende Kerle, die sich anstießen, anerkennendes Murmeln bis hin zu Anzüglichkeiten, die sich nur deshalb nicht zu Zudringlichkeiten ausgewachsen hatten, weil die Betreffenden wussten, wen sie vor sich hatten. Da sie in Castra Lupiana aber niemand gekannt hatte, waren die Hemmschwellen heute deutlich niedriger gewesen. Zum Glück war unter den Gruppen von Männern, die bald ihren Stand umlagert hatten, fast immer jemand gewesen, der sie vor den anderen in Schutz genommen hatte, und sei es nur, um sich in angeberischer Ritterlichkeit vor ihr zu profilieren.
Für die Erfüllung ihres Auftrags war das natürlich von immensem Vorteil gewesen, denn fast alle hatten ihre Waren taxiert und das Gespräch mit ihr gesucht, ohne zu merken, dass sie die Unterhaltung immer wieder auf das gleiche Thema lenkte. Und fast alle hatten unter den neidvollen und gehässigen Blicken der anderen Bäuerinnen etwas gekauft.
Auch einige römische Frauen mit Kindern waren dabei gewesen, Angehörige der Legionäre oder der Handwerker, die das Heer begleiteten. So war ihr Wagen schon nach einem halben Tag leer gekauft und ihre Aufgabe damit zwangsläufig beendet gewesen. Als sie sich auf den Rückweg gemacht hatte, war sie ein bisschen amüsiert gewesen über die Durchschaubarkeit der Annäherungsversuche, ein bisschen angewidert von den Aufdringlichkeiten einiger besonders dreister Käufer und auch ein bisschen stolz darauf, dass sie mehr Informationen bekommen hatte als erwartet.
Und dann war da noch dieser junge Römer gewesen: Sein Selbstbewusstsein wirkte nicht überheblich und seine Höflichkeit kam ohne Floskeln aus. Solange sie Waren verkauft und Kunden ausgehorcht hatte, hatte sie gehofft, ihn wiederzusehen. Was für eine Funktion er wohl innerhalb der Armee hatte? Oder gehörte er zu den Händlern, die von den Legionen mitgespült wurden und ihre Geschäfte machten? Irgendwie sah er nicht danach aus. Seine Haltung und die Selbstverständlichkeit gewisser Gesten hatten etwas Vornehmes. Sei’s drum, dachte Fastrada. Du wirst es nie erfahren.
Batwin trat aus dem Haupthaus seines Gehöfts und riss sie aus ihren Gedanken. Er blickte auf den leeren Karren und grinste. »Bist du sicher, dass du nach Hause willst?«, fragte er. »Mit dir als Verkäuferin ließe sich bei den Soldaten ein Vermögen machen. Und wenn du das nächste Mal vielleicht noch tanzt …«
Fastrada musste lachen. »Aber nur, wenn du dich auf den Wagen stellst und singst.«
Batwin lachte ebenfalls. »Das würde die Käufer wohl eher abschrecken. Obwohl …« Er sah an ihr hinunter und nickte anerkennend. »Es wäre eine Gelegenheit, um festzustellen, ob Liebe tatsächlich blind macht – oder nicht doch eher taub!«
»Fang du nicht auch noch an!«
»Würde ich nie wagen. Jedenfalls nicht jetzt. Wir haben Besuch.« Er beugte sich verschwörerisch zu ihr vor und wies hinter sich zum Hauseingang. »Dein Sittenwächter ist da.«
In diesem Augenblick trat Irmin ins Freie. Fastrada lächelte. Die Anwesenheit ihres Cousins nahm den letzten Rest der lauernden Beklommenheit von ihr, die sie den ganzen Tag über verspürt hatte. »Komm rein«, sagte er. »Wir sind gespannt, was du zu erzählen hast.«
Die Sachlichkeit in seiner Stimme befremdete sie ein bisschen, dann trat sie hinter den beiden ins Gebäude. Es war das typische Langhaus der Stammesführer, eine schmucklose Halle, deren strohgedecktes Dach von dicken Pfosten getragen wurde. Wie bei Irmin und ihrem Vater standen auch hier ein paar römische Klappstühle um einen massigen Tisch herum. Batwin bot ihr einen Platz an, dann setzten sich auch die beiden Männer. Sonst war niemand im Raum.