19
Caius starrte seinen Freund an, der sich die Knöchel rieb. Lucius sah aus, als würde er am liebsten ein zweites Mal gegen den Türrahmen schlagen, der plötzliche Schmerz hatte ihn noch wütender gemacht. Es fiel ihm sichtbar schwer, sich zusammenzureißen.
Hinter Caius stöhnte der Leibwächter auf. Er hatte sich inzwischen aus der Handfessel befreit, in eine sitzende Position gestemmt und fummelte nun an dem Strick an seinen Füßen herum.
»Wer war das?«, fauchte Lucius. »Und wie konnte das passieren?«
»Die erste Frage kannst du dir selbst beantworten. Und für die zweite musst du warten, bis er sich wieder gefangen hat«, sagte Caius. Er wies auf den Leibwächter, einen muskelbepackten Kerl namens Placidus, der mit einem ärgerlichen Ruck das Seil von seinen Fußgelenken riss und halb wütend, halb schuldbewusst zu ihnen aufblickte.
»Ein Schlag auf den Kopf«, sagte er stöhnend und rieb sich eine Stelle am Schädel.
»Du standest in der Gasse mit dem Rücken zur Tür«, sagte Lucius ungnädig. »Wie kann sich da einer von hinten angeschlichen haben?«
»Er kam von oben. Ich bin erst hier drin wieder aufgewacht.«
Lucius ging zur Eingangstür und trat auf die Gasse. »Der Kerl muss über das Dach gekrochen sein«, ließ er sich gedämpft von draußen vernehmen. Dann bückte er sich nach etwas und kam mit einem Ziegelstein in der Hand wieder herein. »Der lag neben der Tür.«
»Rullianus«, murmelte Caius. »Er hat ihm den Stein über den Schädel gezogen. Saubere Arbeit.«
»Glaube ich nicht«, sagte Lucius kopfschüttelnd. »Meinst du, der Herr Legat schleicht sich persönlich über das Dach an?«
»Nein«, murmelte Caius nachdenklich. »Dafür hat er vermutlich seine Helfer.«
»Vielleicht hat er den Boten auch nicht eigenhändig umgebracht.«
»Das ändert eigentlich nichts. Er war’s jedenfalls, so oder so.«
»Es ändert insofern etwas, als es in diesem Fall möglicherweise weitere Mitwisser gibt«, gab Lucius zu bedenken. »Und dass wir jetzt gar keine Ahnung mehr haben, vor wem wir uns in Acht nehmen müssen.« Dann wandte er sich wieder an Placidus, der mit zerknirschtem Gesicht aufgestanden war. »Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?«
»Ein Blitz vor meinen Augen. Und gleichzeitig ein dumpfer, dröhnender Schlag. Wie beim Gewitter, wenn man mittendrin ist.«
»Schöner Vergleich«, spottete Caius. »Wir haben einen Poeten als Bewacher.«
Sie schwiegen eine Weile. Was erzählen wir jetzt Varus, schoss es Caius durch den Kopf, und sein Freund schien das Gleiche zu denken.
»Wir müssen zurück und es ihm beichten«, sagte Lucius schließlich. »Damit können wir wohl vergessen, dass er uns in sein Geheimnis einweiht. Wir können froh sein, wenn er uns nicht aus dem Lager wirft.«
Caius nickte. Es war klar, dass sie keine andere Wahl hatten. Und so holten sie einen der Sklaven von Lucius, der sich auf die Heilkunst verstand, und wiesen ihn an, sich um den Verletzten zu kümmern. Dann traten sie schweigend und mit einem beklommenen Gefühl im Magen den Rückweg zur Kommandantur an. Die Wachen ließen sie ungefragt passieren, und ein Sklave begleitete sie zu dem Raum, in dem der Statthalter auf sie wartete.
Varus schien Unheil geahnt zu haben, denn er ging rastlos mit seinem Becher im Raum auf und ab, als sie eintraten. Während die beiden von dem Diebstahl berichteten, hieb er ein paarmal mit der Faust gegen die Wand, doch der erwartete Wutanfall blieb aus, wenngleich es den Statthalter unendliche Überwindung zu kosten schien, sich zusammenzunehmen. Seine Hand zitterte stark, mit einem wütenden Schluck leerte er den Becher und knallte ihn auf den Tisch, schenkte aber sofort nach. Dann setzte er sich und blickte grübelnd ins Leere.
Die beiden Freunde standen unschlüssig in der schier unerträglichen Stille des Raumes an der Tür, die der Sklave hinter ihnen geschlossen hatte. Während Caius sich noch fragte, ob es ungebührlicher wäre, stehen zu bleiben oder unaufgefordert wieder Platz zu nehmen, fasste Lucius sich ein Herz und hockte sich auf den Rand der Kline, auf der er zuvor gelegen hatte. Caius folgte seinem Beispiel.
Varus blickte kurz auf, sagte aber nichts und verfiel erneut in sein nachdenkliches Starren. Nach einer Weile leerte er seinen Becher, stellte ihn ab und holte tief Luft. Er goss sich erneut nach und nahm einen großen Zug. »Soweit ich mich erinnere, geht aus meinem Brief nicht mit einem Wort hervor, um was es sich handelt«, sagte er. »Wer auch immer den Brief gestohlen hat – er wird nicht viel Neues daraus erfahren. Nach allem, was ihr berichtet habt, kann man wohl davon ausgehen, dass Rullianus ihn jetzt hat. Und wenn schon. Er weiß nicht mehr als das bisschen, was er sich zusammengereimt hat. Ich frage mich, wie er überhaupt Wind von der Sache bekommen hat. Als wir noch in Oppidum Ubiorum waren, hat er nach einer Besprechung versucht mich mit ein paar hingeworfenen Bemerkungen in die Enge zu treiben. Aus seinen Unverschämtheiten ging eigentlich nur hervor, dass er geblufft hat. Er würde mich gern erpressen, aber er weiß nicht womit.«
»Er hat gewissermaßen einen Pfeil in die Luft geschossen«, sagte Lucius. Caius warf seinem Freund einen entsetzten Blick zu. Wenn Lucius jetzt auch noch verriet, dass sie bei der Besprechung im Stabsgebäude von Oppidum Ubiorum gelauscht hatten, dann brach vielleicht doch ein Donnerwetter über sie herein.
Der Statthalter hatte die Bemerkung jedoch nicht gehört. Gedankenverloren schenkte er sich Wein nach. »Ich habe vor fünfzehn Jahren einen großen Fehler begangen«, sagte er. »Aber ich werde ihn wiedergutmachen. Es ist kein Schaden entstanden. Schaden entsteht erst, wenn bekannt wird, worum es sich handelt. Nun, wie gesagt, ich habe einen Fehler begangen. Aber das ändert nichts daran, dass ich hier das Sagen habe.« Varus war von der Kline aufgestanden und schien aus seinen eigenen Worten zunehmend Entschlossenheit zu schöpfen. »Ich bin der Statthalter des Augustus in dieser Provinz«, fuhr er jetzt in scharfem Ton fort. »Ich kommandiere die Rheinarmee, und wenn es mir passt, dann schicke ich Rullianus mit seiner Legion auf den Mond.«
Caius war erleichtert über die Lebhaftigkeit, mit der Varus gesprochen hatte. Die Wut des Statthalters richtete sich ausschließlich gegen seinen Legaten. Außerdem hatte das peinliche Schweigen ein Ende.
Varus redete sich jetzt zunehmend in Rage. »Dieser Gernegroß tut gut daran, sich mir gegenüber zurückzuhalten!«, rief er. »Er hat nichts in der Hand außer einem Brief voller Andeutungen. Wenn es hart auf hart kommt, kann ich sogar bestreiten diesen Brief selbst geschrieben zu haben. Andere Anhaltspunkte gibt es nicht.«
Bis auf einen, dachte Caius. Irgendwo steht eine Truhe oder Kiste mit gewichtigem Inhalt. Wenn das kein Anhaltspunkt ist. Ihm fiel noch etwas anderes ein. Es musste ja einen Brief geben, auf den der Statthalter mit seinem Schreiben geantwortet hatte. »Was ist mit dem Brief des Princeps?«, fragte er vorsichtig.
Varus fuhr herum. »Du hältst dich für sehr klug, was?«, fragte er bissig. »Den Brief habe ich vernichtet.« Dann beruhigte er sich wieder. Er ging zu seiner Kline, setzte sich und füllte seinen Becher erneut, ohne den beiden etwas anzubieten. Mit einem Ruck stürzte er den Wein hinunter. Er schien zu überlegen. Als er weitersprach, wirkte er aufgeräumt, fast belustigt. »Wir sind jetzt in der geradezu grotesken Situation, dass zwei Jungen, die meine Söhne sein könnten, mir hier mitten in Germanien gegenübersitzen und darauf warten, dass ich sie zu Mitwissern einer Staatsaffäre mache, die das ganze Imperium erschüttern könnte«, sagte er und lachte plötzlich auf, ohne sie anzusehen. Caius hatte den Eindruck, dass der Statthalter angetrunken war. Immerhin hatte er schon einige Becher Wein geleert, die letzten drei davon ziemlich schnell hintereinander. Varus lachte eine Weile kopfschüttelnd vor sich hin, dann presste er, immer noch grinsend, die Lippen aufeinander und sah zuerst Caius, dann Lucius an. »Ihr fragt euch die ganze Zeit schon, was vor fünfzehn Jahren passiert ist, was?«, fragte er plötzlich, und bevor sie antworten konnten, fuhr er fort: »Seit ihr eure neugierigen Nasen in diesen verdammten Brief gesteckt habt, denkt ihr darüber nach.« Varus schenkte sich den letzten Schluck aus der Karaffe ein. Sein Gesicht wurde wieder ernst und er schwieg eine Weile.