Caius fühlte sich mit einem Mal von allen Seiten bedrängt und plötzlich fiel ihm der Traum wieder ein, der ihn auf der Schiffsfahrt nach Oppidum Ubiorum heimgesucht hatte: gesichtslose Tote, mit denen er durch einen engen Korridor stolpern musste. »Lass uns rausgehen«, sagte er und wandte sich um.
22
Sie blieben vier Tage bei der Mine, Tage, die Caius vertrödelte, während Lucius von morgens bis abends damit beschäftigt war, den Betrieb zu inspizieren, Anweisungen zu geben, Geld zu zählen und an der Seite seines Sekretärs Leandros Abrechnungen zu prüfen.
Caius begriff in diesen Tagen, was er zuvor nur geahnt hatte: Lucius liebte die Herausforderung. Was er auch tat – er tat es mit Leidenschaft und Eifer. In Rom hatte er das Leben eines verwöhnten Sohnes aus reichem Haus geführt, er hatte Mädchen nachgestellt und üble Streiche ausgeheckt, aber nicht, weil der Müßiggang seinem Charakter entsprach, sondern weil ihm bis dahin keine andere Aufgabe zugewiesen worden war. Viele hielten ihn für ein Großmaul, aus dem nichts werden würde als ein im gelangweilten Überdruss alternder Schwerenöter, der das Arbeiten anderen überließ und bis ans Ende seiner Tage sein reiches Erbe mit Lastern und Exzessen verprassen würde. Jetzt aber, wo er mit Bleibarren hantierte und Akten überflog, jetzt bewies er, wie oberflächlich dieses Urteil war. Caius dachte an die Worte seines Vaters auf dem Forum: Deine Abstammung ist kein Verdienst, sondern ein Ansporn, dir mit echten Verdiensten echten Respekt zu verschaffen. Sein Freund Lucius, der Tunichtgut, hatte diese Weisheit längst verinnerlicht, ohne dass es jemand gemerkt hatte, vielleicht noch nicht einmal er selbst.
Am Abend des letzten Tages ging es Caius auf einmal schlecht. Er wusste nicht, ob es am Essen lag oder an der schwülen Luft oder an beidem. Abends im Bett wälzte er sich unruhig hin und her.
Wenn er die Augen schloss, begann sich alles um ihn herum zu drehen. Er stellte einen Fuß auf den Boden, doch es wurde kaum besser. Schließlich stand er wieder auf, um sich die Beine zu vertreten. Fast augenblicklich ließ das Schwindelgefühl nach. Caius trat vor die Tür. Draußen war es totenstill.
Am Himmel leuchtete der Vollmond strahlend hell. Caius blickte sich in der Siedlung um und fühlte sich auf einmal gar nicht mehr müde. Weil er außerdem fürchtete, dass sein Kopf erneut zu rotieren beginnen würde, sobald er sich ins Bett legte, beschloss er einen kleinen Spaziergang zu machen.
Er verließ das Dorf und lief auf einem Weg zwischen leise rauschenden Buchen, deren Laub ein rätselhaftes Eigenleben zu führen schien und ab und zu unregelmäßige Ausschnitte der Mondscheibe zeigte. Stämme und Wurzelwerk schimmerten in fahlem Grau. Ein Knacken drang aus einem Busch, gefolgt von der raschelnden Geschäftigkeit eines Nagetiers. Die geheimnisvolle Dunkelheit zog Caius tiefer in den Wald hinein, als gälte es, eine Mutprobe zu bestehen. Und so ging er mit zuerst zögernden und dann immer entschlosseneren Schritten weiter den Pfad entlang, bis die Bäume vor ihm auseinanderwichen und den Blick freigaben auf einen Weiher, der im Mondlicht bleiern leuchtete. Plötzlich sah er auf der anderen Seite einen Lichtschein. Eine Gänsehaut kroch über seine Arme. Etwas bewegte sich dort drüben. Caius duckte sich hinter einen Baumstamm und starrte angestrengt hinüber. Das Leuchten kam von einer Fackel, die von einer weiß gekleideten Gestalt getragen wurde. Die geisterhafte Figur, die in der Dunkelheit kaum als Mensch zu erkennen war, erschien zwischen den Bäumen und lief zum Ufer. Fünf weitere ebenfalls weiß gekleidete Gestalten mit Fackeln in der Hand traten in einigem Abstand aus dem Wald und formierten sich am Ufer zu einem lockeren Kreis. Es war ein gespenstischer Anblick, und Caius klopfte das Herz bis zum Hals. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie mich hier entdecken, dachte er. Unwillkürlich sah er sich auf einen Altar gezerrt, von Skeletten in weißen Gewändern, die sich anschickten, ihm bei lebendigem Leib das Herz herauszureißen.
Ein leise anschwellendes Raunen und Murmeln mischte sich unter das Rauschen der Baumwipfel. Der Feuerschein spiegelte sich im Wasser, gelbliche Lichtflecke, überstrahlt von der Helligkeit des Mondes, der wie ein aus den Tiefen aufgetauchtes Amulett in der Mitte des Teiches schwamm. Caius ließ seinen Blick über das Ufer schweifen. Neben den Fackelträgern ragte ein Steg in den See, dessen Ende von mannshohen Flechtwerkwänden umgeben war.
Nach einiger Zeit verstummte das Murmeln, und eine der Gestalten löste sich aus dem Kreis, betrat den Steg und verschwand hinter der Wand. Kurz darauf ertönte ein Platschen. Kleine Wellen zerfetzten den Widerschein der Fackeln zu winzigen Lichtflecken, die sich halbkreisförmig zur Mitte des Weihers fortpflanzten und die Mondscheibe in wild tanzende Stücke schlugen. Die Gestalt erschien wieder auf dem Steg, schritt langsam zurück zum Ufer und gesellte sich zu den anderen. Dann traten alle in einer Reihe an den Rand des Sees und löschten ihre Fackeln im Wasser. Es war, als löschten sie sich selbst, denn in dem Augenblick, in dem das Zischen des ersterbenden Feuers über den See wehte, verdunkelten sie sich zu hellgrauen Schemen vor dem dunkelgrauen Hintergrund des Waldes, in dem sie bald darauf verschwanden.
Caius fragte sich, ob er geträumt hatte. Er beschloss, noch eine Weile in seinem Versteck zu bleiben, um nicht entdeckt zu werden, falls die Männer den Teich umrunden sollten. Bei dem Gedanken, dass plötzlich jemand hinter ihm auftauchen könnte, begann sein Herz zu rasen. Er hielt den Atem an.
Auf einmal knackte es am anderen Ufer. Caius duckte sich unwillkürlich tiefer. Zwei huschende Gestalten erschienen zwischen den Bäumen und liefen auf den Steg zu. Als Caius erkannte, dass es Legionäre waren, erstarrte er. Die beiden Männer blieben stehen und steckten kurz die Köpfe zusammen. Anschließend zogen sie sich nackt aus, wateten bis zum Hals ins Wasser und begannen zu tauchen. Wenig später vernahm Caius einen triumphierenden Schrei, gefolgt von einem zischenden Laut. Bald darauf schwammen die beiden wieder ans Ufer und beugten sich tuschelnd über etwas.
Dann ging alles ganz schnell. Ein Geschrei durchschnitt gewaltsam die Stille des Waldes, aus dem einen Moment später mehrere Männer hervorstürzten. Die beiden Legionäre schreckten auf und wollten weglaufen, doch die anderen waren schneller. Es kam zu einem Handgemenge am Ufer, Körper wälzten sich, Beine schlugen aus, Laute gurgelten durch die Dunkelheit, dann wurde es wieder ruhig. Für Caius war es unmöglich zu erkennen, wer über wen die Oberhand gewonnen hatte, aber als zwei Körper von kräftigen Silhouetten geschultert und weggetragen wurden, da wusste er, dass die Soldaten überwältigt worden waren.
Caius wartete noch einen Moment, schließlich raffte er sich auf und stemmte sich aus seiner geduckten Haltung hoch. Nur noch ein paar träge hin und her laufende Wellen spielten mit dem Mond und verrieten, dass hier etwas passiert war. Caius, der seine Beine nach dem langen Hocken kaum strecken konnte, machte sich auf den Heimweg.
Am nächsten Morgen war die Siedlung in heller Aufregung. Als Caius verschlafen ins Freie trat, hatte sich auf dem Platz vor dem Haupthaus eine Menschenansammlung gebildet, während zwischen den Hütten die Legionäre in drohender Haltung und voll bewaffnet Aufstellung genommen hatten. Caius fragte sich, woher die Germanen plötzlich alle gekommen waren. Varus stand inmitten der Menge und redete über seinen Dolmetscher beschwichtigend auf ein paar besonders aufgebrachte Männer ein, die zwei an den Händen gefesselte Legionäre zwischen sich festhielten und drohende Gesten machten.
Vorsichtig trat Caius näher. Den Gesprächsfetzen konnte er entnehmen, dass den Germanen in der Nacht zwei römische Soldaten in die Hände gegangen waren, die einen nahe gelegenen Opferteich entheiligt hatten, indem sie nach Weihegaben getaucht waren, die Priester dort zur Beschwichtigung der Götter versenkt hatten. Sie verlangten, dass Varus ihnen die beiden zur Bestrafung überließ, aber der Statthalter dachte gar nicht daran. Über den Dolmetscher ließ er mitteilen, dass er den Vorfall zwar bedauere, aber entschlossen sei, die Übeltäter selbst abzuurteilen, und zwar nicht hier unter den Augen der rachedurstigen Menge, sondern nach den Richtlinien des römischen Militärs.