Von Silanus erfuhren sie auch, dass man nun doch nicht weiter nach Osten ziehen werde, weil die angeblich mit Marbod verbündeten Stämme beim Herannahen der Legionen offenbar vom Erdboden verschluckt worden waren. Das jedenfalls hatten die Kundschafter gemeldet, zumeist kleine berittene Gruppen der Hilfstruppen, die jeden Tag ausschwärmten und abends Bericht erstatteten. Einmal überquerte eine komplette Legion, die XVIII., unter dem Kommando von Caius Numonius Vala die Visurgis, kehrte aber nach zehn Tagen mehr oder weniger unverrichteter Dinge zurück.
Varus schien mit dem Ergebnis seiner Verhandlungen zufrieden. Die Abordnungen seiner Bündnispartner lieferten Tribute ab, brachten darüber hinaus Geschenke und versprachen beim Aufbau römischer Siedlungen und bei der Erschließung der Rohstoffe des Landes mit allen Kräften behilflich zu sein. Trupps von Landvermessern schwärmten aus, teilten Äcker und Wälder ein, zählten die Bevölkerung und das Vieh. Wenn er für ein paar Tage keine Gäste zu empfangen hatte, begab sich der Statthalter auf Inspektionsreisen, um der sich entfaltenden Verwaltung auf die Finger zu sehen oder Gerichtstage abzuhalten. Auch dabei gab es keine Zwischenfälle. Die beiden Legionäre, die den Opferteich der Marser entweiht hatten, waren zum Wasserschleppen und zum Ausleeren der Latrinen verdonnert worden, was einer milden Bestrafung gleichkam, wenn man bedachte, dass ihr Vergehen eine Zeit lang zu erheblicher Verstimmung in maßgeblichen Kreisen des Stammes geführt hatte. Doch auch diese Verwicklungen waren nach einigen Wochen völlig in Vergessenheit geraten, jedenfalls hatte Varus laut Silanus nach einer Besprechung halb im Spaß und halb im Ernst gesagt, dass die Friedfertigkeit und Dienstbeflissenheit der Germanen fast schon etwas Irritierendes habe.
Alles in allem war Germanien also tatsächlich auf dem besten Weg, eine Provinz des Imperiums zu werden. Seinem Vater berichtete Caius in mehreren Briefen über die Entwicklung, und nachdem sie zwei Wochen im Sommerlager zugebracht hatten, traf zum ersten Mal ein langes Schreiben von Quintus Cornelius Castor aus Rom ein, dessen Erholung so schnelle Fortschritte machte, dass er schon wieder zu denken wagte, was er vorerst wohl weder seiner Frau noch seinem Arzt eröffnete: Dass er im nächsten Frühjahr selbst nach Germanien zu kommen wünschte, um die Aufgabe wahrzunehmen, die der Princeps ihm bei jener denkwürdigen Audienz übertragen hatte.
Lucius wich seinem Freund in dieser Zeit nicht von der Seite, weil er nach und nach ein ganz eigenes Interesse an der Provinzverwaltung entwickelte, aus der er allerhand Schlüsse für die Führung seiner Mine zog.
Ab und zu speisten sie mit dem Statthalter und seinem Gefolge, doch nie waren sie mit ihm allein. Die Erinnerungen an die Ermordung des Boten, den Brief des Statthalters und den schrecklichen Verdacht gegen Rullianus verblassten, und abends sprachen sie mehr und mehr über andere Dinge. Das Abenteuer schien im Alltag zu stranden, und nichts zeigte diese Entwicklung deutlicher als die Tatsache, dass Lucius sich wieder, wie er sich ausdrückte, für die Kriege des Amor zu interessieren begann, die denen des Mars am Ende doch vorzuziehen seien. Eroberungen blieben aber vorerst aus.
Wenn sie durch die Lagervorstadt oder über den Bauernmarkt streiften, hielt Caius Ausschau nach dem Mädchen aus Castra Lupiana. Er hätte inzwischen kaum noch sagen können, wie sie aussah, und dennoch blieb der Gedanke aufregend, sie wiederzutreffen. In seiner vagen Erinnerung verklärte er das Gesicht der Unbekannten zum Abbild eines vollkommenen Liebreizes, für den jede Beschreibung nur die Vergeudung ohnehin unzulänglicher Worte war. Natürlich war es so gut wie unmöglich, ihr hier zu begegnen. Sie gehörte doch aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Brukterern, und die nahmen wohl kaum den langen Weg auf sich, um ihr Gemüse im Sommerlager zu verkaufen, zumal die Cherusker sie bestimmt als lästige Konkurrenten aus dem Land gejagt hätten.
Der Sommer hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten, als Caius und Lucius zur Teilnahme an einer großen Zusammenkunft aufgefordert wurden, die einen halben Tagesritt entfernt an einem zentralen Versammlungsort der Cherusker stattfinden sollte. Caius vermutete zunächst eine kleinere Veranstaltung, zu der nur die Spitzen des Stammes und der Statthalter mit ein paar Begleitern auftauchen würden. Doch dem war nicht so: Die Cherusker wollten eine Art Heerschau abhalten, denn die ersten Kohorten aller drei Legionen wurden marschbereit gemacht, dazu Teile der berittenen germanischen Hilfstruppen, bei denen im Lauf der letzten Wochen ein reges Kommen und Gehen geherrscht hatte. Die Einladung zu der Versammlung hatte niemand anders als Arminius übersandt, der Stammesführer der Cherusker und Präfekt der von diesen gestellten Hilfstruppen. Varus hatte sich lediglich ein paarmal bei seinen Inspektionsreisen mit ihm getroffen, im Lager hatte Arminius sich noch nicht blicken lassen. Da es nicht unbedingt dem typischen Verhalten des romtreuen germanischen Adels entsprach, sich auf diese Art rarzumachen, schossen im Lager die Gerüchte umso wilder ins Kraut. Der Cheruskerführer wurde zu einem finsteren Riesen, der in Pannonien wahre Heldentaten vollbracht hatte, und niemand widersprach den angeblich von höchster Stelle durchgesickerten Nachrichten, dass für ihn im römischen Heer eine Karriere vorgesehen war, wie sie noch nie ein Barbar gemacht hatte. Caius erinnerte sich bei diesem Gerede an die Worte des Princeps. Wir füttern sie mit Beute und Titeln und zeigen ihnen, wie sie immer mehr zusammenraffen können. Ihre Rastlosigkeit wird zu Ehrgeiz und der Ehrgeiz zu Gier. Und dann merken sie, dass sie uns eigentlich gar nicht brauchen. So ähnlich hatte Augustus sich ausgedrückt. Und wenn schon in Rom auf diese Weise über Arminius gesprochen wurde, was mochte man ihm dann erst hier zutrauen, in seinem Land, wo er das Sagen hatte!
Da nun für den Tag der Zusammenkunft fast alle waffenfähigen Männer der Cherusker angekündigt waren, schienen Varus und die Leute vom Stab der Legionen besonderen Wert darauf zu legen, ihrerseits mit großem Gefolge zu erscheinen, um bei der Versammlung keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wer Kopf und Herz der in Germanien operierenden Streitkräfte war. Sonst, das hatte Varus angeblich bei einer Besprechung gesagt, sehe es am Ende aus, als stellten die Römer die Hilfstruppen der Cherusker und nicht umgekehrt.
Und so zog am Morgen des für das Treffen festgesetzten Tages eine Streitmacht aus, die schon angesichts ihrer reinen Zahlenstärke beachtlich war. Fast dreitausend Soldaten folgten dem Statthalter, der hinter seinen Liktoren ritt und seine gesamte Leibwache um sich und seinen engen Kreis geschart hatte. Hörner blitzten in der Sonne. Helmbüsche zitterten. Pferdegeschirre klimperten. Standartenträger reckten ihre Feldzeichen in die Höhe und setzten sich auf ein Signal hin im Gleichschritt mit den nachfolgenden Truppen in Bewegung.
Caius und Lucius hatten sich den höheren Beamten des Verwaltungsstabes angeschlossen, die in ihren weißen Tuniken inmitten des ansonsten ganz und gar militärischen Aufmarsches wie Fremdkörper wirkten. Einmal sah Caius das finstere Gesicht von Rullianus zwischen dem lebenden Schild aus Prätorianern weiter vorn.
Vier Stunden lang ging es ohne Rast durch die brütende Hitze des Augustnachmittages. Schließlich schälte sich am Horizont ein unregelmäßiges Steingebilde aus dem wabernden Dunst. Den Gesprächen entnahm Caius, dass das Zusammentreffen dort stattfinden sollte. Die Cherusker nutzten diesen Ort, dessen Name übersetzt so viel wie Elstersteine bedeutete, für ihre Volksversammlungen, weil sie glaubten, dass ihr Gott Wodan, der in der römischen Götterwelt in etwa Merkur entsprach, diese Steine dort aufgestellt habe.
Im Näherkommen wurden die Felsformationen immer gewaltiger. Zwischen kleineren Steinen ragten fünf oder sechs größere aus dem Land auf wie langsam verrottende Zähne aus dem liegen gebliebenen Unterkiefer eines Riesen. Einer von ihnen stand so schräg zwischen zwei anderen, dass Caius sich wunderte, dass er nicht schon längst zur Seite gesackt war.