Vor den Felsen war eine riesige Rodung, auf der es vor Menschen zu Fuß und zu Pferd nur so wimmelte. Ohne anzuhalten, arbeitete sich der Zug der Römer über eine letzte flache Hügelkuppe und strömte wie ein rot, silbern und golden glitzernder Bach auf die sich verbreiternde Lichtung zu.
Die tausendgesichtige Masse aus rotbärtigen und blondhaarigen Kriegern, die meisten ohne Harnisch und mit spärlicher Bewaffnung, spaltete sich in zwei Lager, als Varus und sein Gefolge an der Spitze des Zuges langsam über die abschüssige Fläche ritten. Nachdem sie in der vordersten Reihe Aufstellung genommen hatten, staute sich der Rest der Kolonne hinter ihnen, sodass die drei Kohorten zwischen den ungeordnet hingewürfelten Germanenhaufen zum Stehen kamen. Sie hatten die Sonne im Rücken und die Gesichter den Felsen zugewandt, die im abendlichen Licht von einem warmen Schimmer überzogen wurden und durch die flach einfallenden Sonnenstrahlen noch schartiger und wilder aussahen als aus der Ferne.
»Was haben sie sich denn da für ein Spektakel ausgedacht?«, raunte einer der Tribunen vor Caius und Lucius seinem Nebenmann zu, einem etwa fünfzigjährigen Centurio, der als Stabsoffizier nicht bei seiner Einheit stand, sondern ebenfalls zu Pferd im Gefolge des Statthalters gekommen war.
Das Gesicht des Centurios, das nach mehreren Jahrzehnten Krieg, zahllosen Übernachtungen bei kalter Witterung und endlosen Märschen unter sengender Sonne von tiefen Furchen durchzogen war, erinnerte Caius an Publius, den Arzt seines Vaters. Der Centurio blickte mit einer Mischung aus Gelassenheit und Umsicht vom Rücken seines Pferdes aus in die Runde. »Ich denke, wir werden gleich in den Genuss einer Ansprache kommen«, sagte er mit der ruhigen Stimme eines Mannes, der durch nichts zu beeindrucken war.
Der Tribun sah sich ebenfalls um. »Wir stehen hier etwas eingekeilt«, sagte er mit kaum zu überhörender Beklommenheit.
»Das gehört dazu«, gab sein Nachbar ungerührt und in dem leicht herablassenden Unterton zurück, den Veteranen gegenüber Grünschnäbeln an den Tag zu legen pflegten. »Sie wollen zeigen, dass sie stark sind.«
»Sind ganz schön viele.«
»Sieht nur so aus.« Der Centurio wies über die Köpfe der Cherusker hinweg an den Rand der Lichtung. »Schau mal genau hin: Sie haben alles aufgeboten, was laufen kann, um uns zu beeindrucken. Die Hälfte kannst du mal gleich wieder abziehen.«
Caius schaute in die Richtung, in die der Centurio gezeigt hatte. In der Tat sammelten sich dort, halb verdeckt von den Kriegern, Alte, Frauen und Kinder.
»Es heißt, dass sie ihre Weibsbilder in die Schlacht mitnehmen. Das spornt sie erst richtig an«, sagte der Tribun.
»Junge«, antwortete der Centurio, der sich durch den Rang seines fast dreißig Jahre jüngeren Nebenmannes nicht im Geringsten beeindrucken ließ, mit väterlichem Spott. »Das erzählen sie euch in Rom, damit es sich ein bisschen wilder anhört.«
Die Schatten waren länger geworden. Durch die senkrechten Lücken zwischen den Felsen leuchtete der Himmel orange. Caius wollte sich gerade zu Lucius beugen, um ihn auf einen Germanen in der Menge aufmerksam zu machen, der aus unerklärlichen Gründen zu seinem Lederpanzer einen römischen Legionärshelm trug, da ging ein Raunen durch die Menge. Alle Blicke richteten sich plötzlich nach vorn. Auf der Spitze der aufragenden Steinsäule, die Caius schon aus der Ferne gesehen hatte, war eine Gestalt erschienen. Und während die Römer in abwartender Haltung, hier und da sichtliches Missbehagen auf den Gesichtern, zu dem Mann hochschauten, erhob sich bei den Germanen ein ohrenbetäubendes Geschrei. Sie schlugen auf ihre Schilde, rammten die Schäfte ihrer Lanzen rhythmisch auf den Boden, dass die Erde zitterte. Sie stampften im gleichen Takt mit den Füßen und skandierten mit sichtlich wachsender Begeisterung wieder und wieder einen fremdartigen Namen.
»Irmin!«, schrie Lucius Caius zu. »Das muss dieser Arminius sein.«
Caius nickte nur, ohne die Augen von der Gestalt abzuwenden, die das Geschehen eine ganze Weile beobachtete, bevor sie mit befehlsgewohnter Geste eine Hand in den Himmel stieß, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Augenblicklich erstarb das Geschrei. Eine bleierne Stille legte sich über die freie Fläche vor den Felsen, unheimlicher und machtvoller als das kehlige Brüllen und das Stampfen und Klappern der Waffen, eine Stille, die umso bedrohlicher wirkte, als der Mann, der nur Arminius sein konnte, zunächst keine Anstalten machte, sich zu regen. Wie erstarrt stand er da, als wollte er über alle Köpfe hinweg nach der feuerroten Sonne greifen. Die Felsen, das Licht, die Menschenmassen und die Pose verbanden sich zu einer durchschaubaren, aber deshalb kein bisschen weniger beeindruckenden Inszenierung der Macht.
Caius dachte schon fast, der Cherusker würde bis in alle Ewigkeit dort oben auf dem Felsen festgewachsen stehen bleiben, als sein Arm sich senkte und Arminius zu sprechen begann. Unverständliche Laute, unterbrochen von Pausen, in denen das Echo seiner Stimme nachhallte, wehten über den Platz. Dann schnellte die Hand, die nun ein Schwert umschloss, erneut nach oben und stieß die Waffe in den Himmel, einmal, zweimal, und beim dritten Mal erhob sich abermals das Geschrei, noch lauter als zuvor, das Stampfen und Klappern setzte wieder ein, der Name schien über die Köpfe der Menge zu fliegen, vereinzelte Sprechchöre fanden zusammen und verschmolzen im donnernden Takt dieses einen Wortes. Es dauerte lange, bis der Lärm abebbte.
Caius blickte sich um. Während die Cherusker sich gegenseitig anstießen, Fäuste ballten und die Brust aufblähten, herrschte bei den Römern eine durch höfliches Lächeln mühsam unterdrückte Entgeisterung vor.
»Was hat er wohl gesagt?«, fragte der Tribun vor Caius den Centurio.
»Das, was sie hören wollten«, gab dieser in demonstrativer Gelassenheit zurück. »Ruhm, Ehre, Tapferkeit, was weiß ich. Irgendwas von den Taten der Vorväter, wenn ich mal raten darf. Damit kriegt man die Leute immer. Geh nach Rom zur Rostra, da kannst du dir das Gleiche anhören. Bei uns sind die Sätze etwas länger, dafür wird hier lauter geschrien. Heiße Luft. Nichts, was man behalten muss.«
Der Tribun schwieg wie ein Schuljunge, der wegen einer dummen Frage vor der ganzen Klasse getadelt wurde.
Eine Reihe vor ihnen blickte sich jemand um. Es war Silanus, den Caius von hinten gar nicht erkannt hatte. Sein Gesicht hatte den gewohnten Ausdruck von arroganter Langeweile. »Im Übrigen ziemlich unhöflich, die Gäste nicht als Erstes zu begrüßen«, sagte er an den Centurio gewandt.
Der Angesprochene grinste. »Stimmt. Das haben wir wohl vergessen ihm beizubringen.«
Während sich in der Menge abermals das vielstimmige Flüstern erhob, steckte Arminius sein Schwert zurück in die Scheide und fing noch einmal an zu sprechen. Abermals flogen Worte über den Platz und hallten zurück. Caius brauchte etwas, bis er begriff, dass der Cherusker nun ins Lateinische gewechselt hatte.
»Aha«, ließ sich der Centurio vernehmen. »Geht doch.«
Was auch immer Arminius sagte – so gut wie niemand verstand es, denn das Gemurmel der Germanen, die weder die Höflichkeit noch die Geduld hatten, länger zu schweigen, schwoll weiter an. Caius blickte sich um und sah missmutige Gesichter bei den Römern. Die Cherusker hatten nun ganz ungeniert zu plaudern begonnen. Als er wieder nach oben schaute, war die Gestalt auf dem Felsen verschwunden, als habe ein Gott ihn mit eiligem Handgriff enthoben und im Abendhimmel verschwinden lassen, der nun rasch eine dunkelblaue Farbe anzunehmen begann. Er musste an der rückwärtigen Seite des Steins hinabgestiegen sein.
Die Germanen zerstreuten sich, während die drei Kohorten etwas unschlüssig in Paradeordnung stehen blieben. Je mehr die Wände aus Menschen um ihn herum zurückwichen, desto entspannter wurde auch Caius, der die ganze Zeit über ein unbestimmtes Gefühl von Bedrängnis gehabt hatte.