Jetzt erschien zwischen den Felsen ein Reiter, der sich auf Varus zubewegte. Es war Arminius. Die beiden Männer begrüßten sich in intimer Freundschaftlichkeit, dann wendete Varus sein Pferd und ritt an der Seite des Cheruskerführers auf die Formation zu. Arminius war von stattlicher Statur, obwohl sein Pferd kleiner war als das des Statthalters, waren beide auf Augenhöhe.
»Ihr habt gehört, was der Präfekt gesagt hat!«, rief Varus in die Reihen der Legionäre hinein. Caius vernahm unwilliges Murmeln. Offensichtlich hatte wirklich niemand verstanden, was der Germane von sich gegeben hatte. »Wir sind heute Abend die Gäste unserer Verbündeten. Jetzt wird gefeiert!« Mit diesen Worten tauchte der Statthalter zusammen mit Arminius in das Spalier seiner Leibwache.
An den Rändern der Lichtung fuhren Ochsenkarren in einer langen Kette vor, die Fässer, vor allem aber gewaltige Spießbraten geladen hatten. Daneben wurden Holzhaufen entzündet und Fackeln in den Boden gesteckt, und bald strahlte die ganze Lichtung im warmen Schein zahlloser Feuer, die das letzte Tageslicht ablösten, in den Scharten der Felsen leckten und die Elstersteine noch riesiger erscheinen ließen. Die ersten Germanen machten sich über die Wagen her, ein tausendstimmiges Gewühl aus Körpern, in das sich nun auch immer mehr Legionäre mischten.
Caius und Lucius saßen ab und während Caius noch überlegte, was sie mit den Pferden machen sollten, löste sich ein Cherusker aus der Menge, nickte ihnen freundlich zu, nahm die Zügel und verschwand mit den beiden Tieren im Gewimmel.
»Was für hilfsbereite Gastgeber«, sagte Lucius.
Die beiden Freunde kämpften sich durch das Gedränge zu den Feuern vor, wo die ersten Gruppen bereits an großen Fleischbrocken kauten und Becher mit Wein oder Bier hinunterstürzten. Bei den Wagen war der Andrang so stark, dass kaum ein Weiterkommen war.
»Wir sollten uns trennen, wenn wir heute noch was kriegen wollen!«, rief Lucius gegen das Stimmengewirr an. »Du Fleisch, ich Wein!«
»Alles klar!«, gab Caius zurück. »Wir treffen uns wieder hier.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, steuerte er auf einen der Wagen zu, auf dem Frauen in langen Gewändern einen gebratenen Ochsen zerteilten und die Stücke in die Menge reichten. Vom Duft angezogen, zwängte er sich durch die gut gelaunt in alle Richtungen drängelnden und schwatzenden Männer. Als er schließlich vor dem Wagen ankam, traf es ihn wie ein Blitz.
Zwischen den Frauen stand, wie aus dem Boden gewachsen, das germanische Mädchen.
24
Der nächtliche Streit während des Heimritts von Castra Lupiana hatte das kindliche und kompromisslose Vertrauen erschüttert, das Fastrada ihrem Cousin entgegenbrachte, seit sie denken konnte. Daran hatte auch das Gespräch am nächsten Tag nichts geändert. Irmin hatte über die Gründe gesprochen, die zu seiner Entscheidung geführt hatten. Sein Plan zum Aufstand war nicht aus einer Laune heraus entstanden, sondern in einem Dickicht von beobachtetem und erlittenem Unrecht allmählich herangewachsen und irgendwann an die Oberfläche seines Bewusstseins gebrochen. Er hatte lange abgewogen, schwankend zwischen der Loyalität zu seinen römischen Verbündeten und der zu seinen Landsleuten, die unter den willkürlichen Steuerforderungen und Übergriffen der Besatzer zu leiden hatten. Irmin verstand zu überzeugen, und seine Argumentation hatte die glasklare Geschliffenheit römischer Advokatenkunst, schlug unerwartete Haken, wenn sie auf Widerspruch traf, fand Vergleiche in fernen Zeiten und Ländern, von denen Fastrada nichts verstand, verschanzte sich in den Bastionen moralischer Überlegenheit, um sich dann in unerwarteten Ausfällen voller leidenschaftlicher Schärfe auf ihre Zweifel zu stürzen. Am Ende musste sie ihm zustimmen: Ja, die Römer waren uneingeladen über den Rhein gekommen, um das Land und seine Bewohner auszupressen. Ja, sie hatten nichts zu bieten als Illusionen von Karrieren, mit denen sie ein paar Geblendete als Erfüllungsgehilfen ihrer Ausbeutungsgier auf ihre Seite zogen. Ja, ihnen war jedes Mittel zur Unterjochung der Bevölkerung der von ihnen besetzten Länder recht. Und ja, wenn man einmal erkannt hatte, dass Widerstand gerechtfertigt war, dann durfte man auch vor Gewalt nicht zurückschrecken.
All dem konnte sie nichts entgegensetzen, und dennoch hatte Irmin nicht auf ihren letzten und schwerwiegendsten Vorwurf antworten können. Dass all die vorgeschobenen Gründe, so überzeugend sie für sich auch sein mochten, nur der Befriedigung seiner eigenen Selbstsucht dienten. Und noch etwas beschädigte das Bild, das Fastrada sich früher von ihm gemacht hatte: Er, den sie als Beschützer geliebt und zu dessen Einfallsreichtum sie aufgeblickt hatte, der augenzwinkernde Mitwisser ihrer Kinderstreiche und Beschwichtiger ihrer ständig empörten Eltern – er hatte wie der Mond eine dunkle Seite. Durch den Riss, den der Streit in jener verfluchten Nacht in die strahlende Figur ihres Cousins gebrochen hatte, sah sie einen anderen Irmin. Dieser erschreckend fremde und gewalttätige Irmin zog mit hassverzerrtem Gesicht zwischen brennenden Gehöften durch, ritt über am Boden liegende Gegner, gab mit einem Wink ganze Familien der Sklaverei preis und sprach in unappetitlicher Kumpanei mit römischen Offizieren am Feuer über das, was sie gefangenen Frauen angetan hatten.
In den folgenden Wochen redeten sie noch oft, denn Irmin schien unendlich viel daran zu liegen, die alte Vertrautheit und Unbeschwertheit wieder heraufzubeschwören. Der Riss schloss sich ein wenig. Aber er blieb sichtbar. Manchmal fragte sich Fastrada, ob die Begegnung mit dem jungen Römer vor dem Lager ihren Teil dazu beigetragen hatte, dass all die Fragen in ihr aufgebrandet waren. Während sie neben ihrem Wagen gestanden und insgeheim auf seine Rückkehr gehofft hatte, war ihr klar geworden, dass auch er, nicht älter als sie selbst, bald mit einem Pfeil im Rücken oder mit eingeschlagenem Schädel im Wald liegen würde – wenn Irmins Plan aufging.
Lange nach dem Vorfall, der Sommer neigte sich dem Ende zu, war in der Nähe ihres Dorfes bei den Elstersteinen eine große Versammlung einberufen worden, zu der auch Abteilungen des römischen Heeres erscheinen sollten. Als sie Irmin darum gebeten hatte, sie mitzunehmen, hatte er fragend eine Augenbraue hochgezogen, denn seit ihrem Streit hatte sie das Weite gesucht, sobald andere Stammesführer nur in die Nähe gekommen waren. Er hatte dann aber eingewilligt, ohne weitere Fragen zu stellen. Vielleicht hatte er geglaubt, dass sie nun doch begann sich für seine Absichten zu erwärmen.
Schon am Morgen des großen Tages erreichte sie in einem Wagenzug das Gelände. Sie kannte die Elstersteine. Vor einigen Jahren hatte Irmin sie einmal auf einen Ausritt dorthin mitgenommen und ihr mit verschwörerischem Gebaren ein Geheimnis gezeigt: Auf der zerklüfteten Nordseite eines besonders großen, schräg stehenden Felsenturms waren in regelmäßigen Abständen Haken in den Stein getrieben worden, über die man Seile werfen konnte, um bis auf die Spitze zu klettern.
Den Tag brachte sie in Gesellschaft der anderen Frauen zu, die in schwatzender Geschäftigkeit im Dorf das Essen zubereiteten. Dreißig Ochsen waren bereits gebraten worden und sollten nun mit hundertachtzig Spanferkeln, Obst, Wein und Bier zum westlichen Rand der riesigen Lichtung gebracht werden. Weil ihr bei der Vorbereitung des Gelages keine bestimmte Aufgabe zugewiesen worden war, führte Fastrada verschiedene Handlangerdienste aus und stahl sich zwischendurch mehrmals davon, um im Schutz der Bäume die Ankunft der Menschenmassen zu beobachten, die aus allen Richtungen zusammenströmten. Einmal sah sie Irmin zwischen den Männern. Er saß auf seinem Schimmel und wies einigen Neuankömmlingen ihre Plätze auf der Wiese zu.
Als sie sich am Abend noch einmal wegschlich, entdeckte sie im hinteren Teil der Lichtung ein paar Reiter in glänzenden Rüstungen, deren Anführer eine Standarte trug. Offenbar waren sie die Vorhut einer größeren Abteilung, denn hinter ihnen spuckte der Wald immer mehr Reiter aus. Die Römer kamen. Überall glitzerte Metall in der Abendsonne, und als die ersten den kunterbunten Haufen der Cherusker erreicht hatten, der sich nun wie auf ein unsichtbares Zeichen hin zu teilen begann, erschienen Fußsoldaten in Marschformation, ebenfalls angeführt von aufragenden Feldzeichen, die von Männern mit Tierfellen getragen und von Hornbläsern begleitet wurden. Den Abschluss bildeten wieder Reiter. Wie eine steife, schillernde Schlange schob sich der Heerzug vorwärts. Nachdem auch der letzte Mann in der lärmenden Menschenmasse auf der Wiese verschwunden war, erkannte Fastrada die Römer nur noch an den Standarten und an der geometrischen Aufstellung der glänzenden Helme, die in eiserner Disziplin wie Fremdkörper mitten im Gewühl der wilden Krieger standen.